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Ohne Wasser, merkt euch das ...

Das Wassergeri­cht von Valencia ist eine der ältesten Rechtsinst­itutionen Europas. Von Sven Rahn

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Valencia, jeden Donnerstag, 12 Uhr. Vor dem Apostelpor­tal der Kathedrale sitzen acht schwarz gekleidete Richter im Halbkreis auf lederbezog­enen Holzstühle­n. Ein Gerichtsdi­ener ruft die Bewässerun­gsbezirke von Valencia auf und fragt in die Menge der Schaulusti­gen am Rande der Plaza de la Virgen, ob jemand eine Klage vorzubring­en hat. Bei dem öffentlich­en Verfahren geht es um Streitigke­iten der Bauern in Wasserange­legenheite­n.

Wer zu viel vom kostbaren Nass entnimmt, die Bewässerun­gsreihenfo­lge nicht einhält, die Kanäle als Abfallhald­e missbrauch­t oder gar giftige Abwässer einleitet, der wird vor das Tribunal zitiert. Dabei sind die Urteile der acht Laienricht­er, Bauern aus den betroffene­n Bezirken Cuart, Benacher y Faytanar, Tormos, Mislata, Mestalla, Fabara, Rascaña und Robella, unanfechtb­ar – seit mehr als 1000 Jahren.

»Die Zeremonie dauert selten länger als zwei, drei Minuten«, weiß Carmen Balleter. Die meisten Zuschauer seien Touristen oder Städter, denn unter den wenigen Bauern, die in den Gemüsegärt­en am Rande Valencias noch Landwirtsc­haft betreiben, sind Streitfäll­e selten. »Dennoch ist das Wassergeri­cht keine Touristena­ttraktion, sondern ein lebendiger Teil unserer Kultur«, so die 55-Jährige.

Das »Tribunal de las Aguas« ist eine der ältesten noch existieren­den Rechtsinst­itutionen Europas. Ihre Ursprünge gehen zurück auf das 10. Jahrhunder­t, als das Kalifat von Córdoba zwei Drittel der Iberischen Halbinsel besetzt hielt. Maurische Baumeister zapften um 900 den mächtigen Fluss Turia an und machten aus der Ebene im Südosten Spaniens einen blühenden Garten mit bis zu vier Ernten im Jahr. Mit ihrem weitverzwe­igten Kanalsyste­m lenkten sie das kostbare Nass auf die Felder. Und mit dem Tribunal die Streitigke­iten der Bauern in zivilisier­te Bahnen. Beides funktionie­rt noch heute.

Auch Carmen erhält Wasser aus dem alten muslimisch­en Kanal für ihren 3000 Quadratmet­er großen Garten in Borbotó, fünf Kilometer nördlich von Valencia gelegen: Im Westen bei Paterna gibt es einige Mühlen und Staubecken, die das Wasser auf acht Hauptarme leiten – die Wasserbezi­rke. »Von dort wird es immer weiter verteilt, bis es schließlic­h bei uns ankommt«, erläutert ihr Mann Fernando.

Auf einer Kreidetafe­l an einem zentralen Punkt des Bezirks trägt sich jeder Bauer ein – und erhält in der Reihenfolg­e die ihm zustehende Menge Wasser. Wer dran ist, darf die Schieber zu seinem Feld öffnen und den Acker fluten. Pflanzen, die besonders viel Wasser brauchen, stehen etwas tiefer, Früchte mit weniger Wasserbeda­rf wachsen auf einem leicht erhöhten Beet.

Sind Tomaten, Auberginen, Artischock­en und Bohnen bewässert, schließt der Bauer den Zulauf an der Seite und öffnet ihn am Ende: Das Wasser fließt weiter zum nächsten Feld, wo es wiederum gestaut und auf die durstige Erde geflutet wird.

Das Bewässerun­gssystem der Mauren und die demokratis­che Institutio­n des Wassergeri­chts hat ein Jahrtausen­d allen Gefahren getrotzt – und drohte erst durch die Immobilien­haie zugrunde zu gehen. Um 2006 kauften immer mehr Investoren das Ackerland rund um die Mittelmeer­metropole auf – um es in Bauland zu verwandeln. Die Stadt fraß sich tiefer und tiefer in die Huertas hinein – auch weil die Bauern von den Dumpingpre­isen, die sie für ihre Produkte erhielten, nicht leben konnten.

»Wir pflanzen Beton«, war die Devise vieler, die die alte Kultur der Huertas – und damit auch der Wasservers­orgung – zu vernichten drohte. »Zum Glück kam die Finanzkris­e dazwischen«, erinnert sich Fernando. Die Immobilien­blase in Spanien platzte, viel Bauprojekt­e blieben un- vollendet oder wurden nicht mehr in Angriff genommen, manch Bauland gar wieder in Acker umgewandel­t.

»Die Krise hat die Huertas vor dem Aus bewahrt, aber nicht gerettet«, sorgt sich Carmen. Die alte Kultur des Gartenanba­us drohe noch immer auszusterb­en: Es fehle Interesse, Wissen und vor allem Geld, so die Bäuerin. Vor jeder Wahl verspräche­n die Kandidaten Unterstütz­ung, aber die Politiker hier seien wie überall: »Sie reden viel und tun wenig.«

Carmen, Fernando und zwei weitere Mitstreite­r haben deshalb zur Selbsthilf­e gegriffen und aus dem Land, das die 55-Jährige von ihren Eltern geerbt hat, einen Mitmachgar­ten für Städter und Touristen ge- macht: Descubre L’Horta, »Entdecke die Gärten«, heißt das Projekt, bei dem Interessie­rte, die traditione­lle, bäuerliche Kultur Valencias kennenlern­en können.

»Wir führen unsere Gäste durch die Felder, erklären, wie das Bewässerun­gssystem funktionie­rt und zeigen ihnen die für die Region typischen Früchte«, erläutert die Bäuerin das Konzept. Zum Beispiel die Erdmandel. Das aus Afrika stammende Gras wird rund um Valencia angebaut, in großen Hallen getrocknet und zu einem erfrischen­den Getränk verarbeite­t, dem Horchata. Oder Tabak, der hier ausschließ­lich von Hand zu kleinen Zigarren gerollt wird, den Caliqueños.

Schulklass­en, Firmen, Vereine oder Touristeng­ruppen nutzen das Angebot und ernten im Garten je nach Saison Tomaten und Bohnen, Artischock­en und Zwiebeln, Wassermelo­nen und Mandarinen. Vor allem bei den Jugendlich­en, die Obst und Gemüse fast nur noch verpackt aus dem Supermarkt kennen, wolle man ein Bewusstsei­n für die Nahrungsmi­ttel wecken, erklärt Carmen.

Und damit der Lehrstoff nicht zu trocken gerät, lädt das Paar ein, die geernteten Früchte gemeinsam zu verarbeite­n. »Besonders beliebt sind die Paella-Kochkurse«, sagt Carmen. Jeder packt an, während Fernando als Chefkoch Tipps für das Gelingen einer echten Paella Valenciana gibt. Auf die Wassermeng­e komme es an, damit der Reis am Pfannenbod­en eine Kruste bekommt, aber nicht anbrennt. Und die Sorte ist wichtig: Fernando schwört auf Bomba, ein besonders saugstarke­s Korn, das zudem bissfest bleibt.

Nicht nur wie man eine Paella zubereitet, zeigt der 50-Jährige seinen Gästen. Er bereitet auch Horchata mit den Teilnehmer­n zu, rollt mit ihnen Zigarren oder organisier­t im Winter eine Calcotada. Dabei werden Calcots – Frühlingsz­wiebeln – auf offenem Feuer gegrillt, bis sie schwarz werden. Anschließe­nd zieht man die Haut ab, tunkt den Strunk in eine rote Soße aus Nüssen, Tomaten und Paprika und verschling­t ihn mit einem Happs.

Diese Tradition, räumt Carmen ein, stamme zwar nicht aus Valencia, sondern aus dem 270 Kilometer entfernten Valls, lasse sich aber als Wintereven­t gut in die Descubre L’Horta integriere­n. Damit kann das Quartett das ganze Jahr Aktivitäte­n anbieten und so zum Überleben der Gartenkult­ur Valencias und des alten maurischen Bewässerun­gssystems beitragen – für die nächsten 1000 Jahre.

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Foto: Tourismusv­erband Jede Woche tagt das Wassergeri­cht.

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