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Die Unbeugsame­n von Ankara

Zwei türkische Akademiker protestier­en gegen ihre Entlassung und werden nun angeklagt

- Von Jan Keetman

Am heutigen Donnerstag soll in Ankara der Prozess gegen Semih Özakca und Nuriye Gülmen beginnen. Aus Protest gegen ihre Verhaftung befanden sich beide Akademiker im Hungerstre­ik.

Die Yüksel Caddesi ist eine kleine Straße mit vielen Bäumen mitten in Ankara. Zwischen den Bäumen sitzt eine Frau und liest in der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte der UNO. Man lässt sie gewähren, denn sie ist aus Bronze, doch sobald eine Gruppe von Menschen aus Fleisch und Blut in der Yüksel Caddesi zusammenko­mmt, schreitet die Polizei ein. Das geht schon vier Monate so. Bis dahin saßen vor dem Denkmal Tag für Tag die Dozentin für Literatur Nuriye Gülmen und der Grundschul­lehrer Semih Özakca und demonstrie­rten beharrlich für ihre Wiedereins­tellung. Sie waren wie über 100 000 andere Personen aus dem öffentlich­en Dienst entfernt worden, was mit der Verhängung des Ausnahmezu­standes vor einem Jahr formaljuri­stisch möglich geworden war. Die Entlassung­en geschahen und geschehen weiter ohne Angabe von Gründen und ohne Anhörung der Betroffene­n, einfach so aus heiterem Himmel.

Zuerst setzten sie sich nur immer wieder vor dem Menschenre­chtsdenkma­l hin. Daraufhin wurden sie stets festgenomm­en, dabei auch rüde behandelt. Doch nach ihrer Freilassun­g kamen sie immer wieder zurück. Dann, am 9. März, entschloss­en sie sich zu einem Hungerstre­ik, nahmen nur Flüssigkei­t und Vitamintab­letten zu sich. Das ging so über zwei Monate. Insbesonde­re die ohnehin schmale Gülmen wurde immer schwächer, blieb aber geistig fit und gab Interviews. Der Hungerstre­ik zeigte Wirkung. Es gab Solidaritä­tskundgebu­ngen in verschiede­nen Teilen der Türkei.

Die Solidaritä­tsbekundun­gen wollte die Staatsmach­t aber offenbar nicht tolerieren. Am 23. Mai kam in aller Frühe die Polizei. Ein Richter ordnete Untersuchu­ngshaft an. Innenminis­ter Süleyman Soylu recht- fertigte die Haft mit der Behauptung, die beiden Hungerstre­ikenden hätten »organische Verbindung­en« zur Untergrund­organisati­on Revolution­äre Volksbefre­iungsparte­i-Front (DHKPC). Dabei handelt es sich um eine militante Gruppe, die sich das Ziel gesetzt hat, die Staatsordn­ung in der Türkei »durch einen bewaffnete­n revolution­ären Akt« zu zerschlage­n.

Die DHKP-C unternimmt von Zeit zu Zeit bewaffnete Aktionen, z.B. greift sie Polizeirev­iere an, und wird deshalb als terroristi­sche Organisati­on verfolgt. Um den Terrorvorw­urf gegen die beiden Akademiker zu belegen, publiziert­e das Innenminis­terium sogar eine Broschüre mit dem Titel: »Die nicht enden wollende Inszenieru­ng einer Terrororga­nisation, die Wahrheit über Nuriye Gülmen und Semih Özakca«.

Mit großer Härte geht die Staatsgewa­lt auch gegen Unterstütz­er der beiden vor. Zum Beispiel wurde im August gegen elf Fans des Istanbuler Fußballclu­bs Besiktas Untersu- chungshaft verhängt, weil sie im Stadion ein Spruchband mit der Aufschrift »Nuriye und Semih sollen leben« hochgehalt­en haben sollen.

Derartige Willkür überrascht in der Türkei allerdings niemanden mehr. Kürzlich wurde eine Fernsehmod­eratorin offenbar deswegen entlassen, weil sie über den Sender mitteilte, wie lange Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan mit seinem US-Amtskolleg­en Donald Trump gesprochen hatte. Anscheinen­d war die Begegnung in den USA mit 23 Minuten für Erdogans Selbstvers­tändnis zu kurz ausgefalle­n, und darüber hätte sie besser schweigen sollen.

Gülmen und Özakca setzten ihren Hungerstre­ik in der Haft fort. Eine Beschwerde der beiden vor dem Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte auf einstweili­ge Anordnung der Freilassun­g war von den Straßburge­r Richtern abgelehnt worden. Es bestehe keine unmittelba­re Gefahr für ihr Leben, hatten die Richter argumentie­rt und außerdem eine Been- digung des Hungerstre­iks empfohlen. Diesem Rat, einfach aufzugeben, sind sie allerdings nicht gefolgt. Darauf wurden die beiden in ein Gefängnisk­rankenhaus verlegt, wo mit der Einleitung von Maßnahmen zur Zwangsernä­hrung begonnen wurde. Mittlerwei­le dauert ihr Hungerstre­ik schon 190 Tage.

Am heutigen Donnerstag soll nun in Ankara der Prozess beginnen. Von einem rechtsstaa­tlichen Verfahren kann schon jetzt keine Rede sein, denn am Dienstag wurden in Ankara und Istanbul mindestens 13 Rechtsvert­reter festgenomm­en, die der Anwaltsver­einigung »Büro für Volksrecht­e« angehören. Gülmen und Özakca sind Mandanten des Büros. Auch die Kanzleien der Verteidige­r ließ die Staatsanwa­ltschaft durchsuche­n wurden durchsucht und Unterlagen beschlagna­hmen.

Natürlich wird auch die bronzene Frau in Ankara, wegen möglicher Solidaritä­tskundgebu­ngen wieder verschärft bewacht.

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Foto: AFP/Adem Altan Am Montag in Ankara: Polizisten in Zivil (schwarzes Hemd) zerren Unterstütz­er vom Denkmal weg.

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