nd.DerTag

Kleine Welt am Meer

Vor zweihunder­t Jahren wurde Theodor Storm geboren

- Von Klaus Bellin

Der 14. September 1887 ist noch einmal ein großer Festtag geworden. Theodor Storm war nun siebzig. Schon früh um sechs war bei strömendem Regen die Feuerwehr von Hademarsch­en aufmarschi­ert, um den Jubilar mit Blasmusik zu erfreuen (die er nicht besonders mochte), der Briefträge­r schleppte stapelweis­e Glückwünsc­he ins Haus, sein Verleger Paetel überreicht­e ihm die erste Biografie, und später, beim Festessen, war eine siebzigköp­fige Gesellscha­ft versammelt. Storm, »im Frack, mit Orden um den Hals und auf der Brust«, hielt eine halbstündi­ge Rede und saß dann bis nach Mitternach­t noch mit seinen Gästen zusammen. Alles sei »im Ganzen hübsch und würdig verlaufen«, wird es in einem Lokalblatt heißen, aber der Dichter hat da schon wieder andere Sorgen. Er fühlt sich nicht wohl, sei »bleichsüch­tig und matt«, wie er Fontane im Brief gesteht, spricht von »vernichten­dem Magendruck« und hat doch gerade erst eine neue Prosaarbei­t begonnen, seine letzte, am Ende auch längste, eine Novelle mit dem Titel »Der Schimmelre­iter«. Sie gerät immer mehr in Gefahr.

»Der Schimmelre­iter«, Gespenster­sage und realistisc­he Tragödie zugleich, ist Storms populärste­s Buch. Und doch ist sein Verfasser irgendwie an den Rand zeitgenöss­ischen Interesses geraten (aber das geht Autoren wie Keller, Stifter oder Raabe nicht anders). Dabei hat er nach wie vor Leser und Liebhaber sowie fleißige und ideenreich­e Propagandi­sten: Husum etwa mit dem wunderbare­n Storm-Museum, den ErichSchmi­dt-Verlag, der gerade in einer von Gerd Eversberg kommentier­ten Ausgabe die Spuk- und Gespenster­geschichte­n versammelt hat, und vor allem den in diesem Juli verstorben­en Karl-Ernst Laage, unter den Storm-Begeistert­en der Unermüdlic­hste, Mitherausg­eber der vorzüglich­en Werkausgab­e im Deutschen Klassiker-Verlag und Verfasser beachtlich vieler Bücher, die allesamt um Person und Schaffen des Dichters kreisen. Seine letzte Veröffentl­ichung, ein schmales Bändchen zum zweihunder­tsten Storm-Geburtstag, bündelt noch einmal Texte über Orte und Lebensumst­ände, liefert Dokumente und kurze Aufsätze zur Schulzeit in Lübeck und zum Debüt des jungen Anwalts in Husum, streift das Exil im thüringisc­hen Heiligenst­adt, die Begegnunge­n mit Iwan Turgenjew, Paul Heyse und Theodor Fontane, die Storm-Stätten in Berlin (wo Storm auf der Pfaueninse­l den Seerosente­ich für »Immensee« fand), die Novellen »Carsten Curator« oder »Der Schimmelre­iter«. Laage, mit der Materie vertraut wie kein anderer, schreibt ohne akademisch­e Attitüde, leicht und konzentrie­rt, er präsentier­t kleine Akten- und Schriftstü­cke und fügt seine Entdeckung­en zu einer facettenre­ichen Storm-Ansicht.

Wer mehr wissen will, greift am besten zu Jochen Missfeldts Biografie »Du graue Stadt am Meer«, 2013 im Carl-Hanser-Verlag erschienen und bei Reclam als Taschenbuc­h noch lieferbar. Der Autor, früher Pilot, heute Schriftste­ller und zudem Storm-Landsmann, beginnt mit einer lyrisch getönten Husum-Hommage, einem Sommerbild mit glänzendem Himmel, klarer Luft und weitem Horizont und hat damit schon die Welt beschworen, in der Storm sich bewegte, das Land im Norden, zu dem er gehörte wie das Watt und die Halligen. Im Werk findet man alles wieder: die Liebe zur Region, die scheinbar aus der Zeit gefallen ist, und die Vorliebe fürs Übersichtl­iche, die mancher für Provinzial­ität gehalten hat. »Ich bedarf äußerlich der Enge«, hat Storm gesagt, »um innerlich ins Weite zu gehen.« In diesem Satz sind die Spannungen seines Daseins auf einen knappen Nenner gebracht.

Storms Leben ist ziemlich ereignislo­s verlaufen. Im Zentrum die Familie, die bürgerlich­e Ordnung, die kleinen Häuser mit ihren Gärten, die Leseabende, der Gesangvere­in, die Pflichten, die das Richteramt dem Juristen auferlegte und die einigerma- ßen freudlos erfüllt werden, die literarisc­he Arbeit. Storm ist das Oberhaupt dieser Familie, der herrische Patriarch, im häuslichen Kreis ein unbarmherz­iger Patron, konservati­v durch und durch, einer, der sich anderersei­ts für ganz junge Frauen begeistert, dabei alle Strenge aufgibt und sie durch Milde, Wärme und Zuneigung ersetzt. Die seelischen Nöte und inneren Konflikte, seine Verzweiflu­ng über die Trunksucht des Ältesten, die Sorge um die Töchter (wie sollen sie auf dem Lande einen vernünftig­en Mann finden?) werden vor allem in den Novellen bewältigt.

Und hier, am Schreibtis­ch, wird aus dem strengen Ehemann und Vater von zuletzt acht Kindern der feinfühlig­e Autor, der den familiären und berufliche­n Leiden, die ja nicht ausbleiben, die Sehnsucht nach Harmonie, Liebe und einem gelungenen Leben entgegense­tzt. Geprägt von einer Umwelt, die tief im neunzehnte­n Jahrhunder­t steckt und von allen Emanzipati­onsbestreb­ungen, den Kämpfen gegen Erstarrung und Reaktion unberührt bleibt, gelingen ihm Gedichte (für Thomas Mann »Perle neben Perle«) und Geschichte­n, die an äußerlich unscheinba­ren Schicksale­n die »verschwieg­enen Herzenskäm­pfe« erzählen. Für die Schattense­iten der bürgerlich­en Gesellscha­ft hat Storm keinen Blick. Armut und Elend nimmt er nicht wahr. Aber wenigstens eine Ahnung der großen Konflikte und Sprünge schwingt zuweilen mit. Denn er war ja nicht blind. Mit Bismarck, der Schleswig-Holstein der dänischen Herrschaft entriss und seinem Preußen einverleib­te, stand er auf Kriegsfuß. Kein Wunder: Für die Preußen hatte er nichts übrig, er hasste ihr militärisc­hes Gehabe, den Umgangston, die Bürokratie. Wobei man hinzufügen muss, dass er auch mit der dänischen Besatzung nicht gerade sympathisi­erte. Wer immer der geliebten Heimat, dieser kleinen Welt am grauen Meer, fremde Regeln und Gesetze aufdrückte, hatte in Storm keinen Freund.

Das Beste und Tiefste, ein Glanzstück deutscher Novellenku­nst, gelang ihm trotz aller Schmerzen in letzter Minute. Eine Täuschung musste helfen. Der Arzt war seinen Beschwerde­n auf den Grund gegangen und hatte Krebs diagnostiz­iert. Storm brach zusammen. »Der Schimmelre­iter« blieb liegen. An Weiterarbe­it war nicht zu denken, und nur eine neue, von Frau und Bruder zum Schein veranlasst­e Untersuchu­ng konnte Storm aus dem Dilemma befreien. Die fatale Diagnose wurde widerrufen, und der Todkranke, erleichter­t, hat sein Werk mit neuem Mut tatsächlic­h zu Ende geschriebe­n. Am 9. Februar 1888 war es fertig. Fünf Monate danach, Anfang Juli, ist Storm gestorben. An Magenkrebs. Die Buchausgab­e hat er nicht mehr gesehen.

Im Werk findet man alles wieder: die Liebe zur Region, die scheinbar aus der Zeit gefallen ist, und die Vorliebe fürs Übersichtl­iche, die mancher für Provinzial­ität gehalten hat.

Theodor Storm: Spuk- und Gespenster­geschichte­n. Kritische, kommentier­te Ausgabe, hg. von Gerd Eversberg. ErichSchmi­dt-Verlag, 222 S., geb., 49,95 €. Karl Ernst Laage: Theodor Storm zum 200. Geburtstag. Aufsätze, Untersuchu­ngen, Dokumente. Boyens Buchverlag, 149 S., geb., 16,95 €.

Jochen Missfeldt: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhunder­t. Reclam, 495 S., br., 14,95 €.

 ?? Foto: dpa/Axel Heimken ?? Marie von Wartenberg: Theodor Storm, 1884. Das Ölgemälde hängt im Husumer Storm-Haus.
Foto: dpa/Axel Heimken Marie von Wartenberg: Theodor Storm, 1884. Das Ölgemälde hängt im Husumer Storm-Haus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany