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Der Karl und der Marx

Jürgen Neffe und Gareth Stedman Jones porträtier­en den großen Philosophe­n aus Trier

- Von Harald Loch

Zwei neue, voluminöse Biografien zum Trierer Philosophe­n.

Vor 150 Jahren erschien der erste Band des Hauptwerks von Karl Marx, »Das Kapital«. Aus diesem Anlass und im Hinblick auf den bevorstehe­nden 200. Geburtstag des Philosophe­n, dem die Krise des globalen Finanzkapi­talismus zu einem Comeback verholfen hat, sind jüngst mehrere Bücher über sein politische­s wie theoretisc­hes Erbe erschienen. Auf der Frankfurte­r Buchmesse werden nun auch zwei neue, voluminöse Biografien präsentier­t. Beide nehmen Marx sowohl gegen seine Gegner, die ihn noch immer verdammen und verteufeln, in Schutz, aber auch gegen die ihn verklärend­en und verfälsche­nden Anhänger. Beide Biografen versuchen, Leben und Werk ihres Protagonis­ten aus seiner Zeit heraus zu verstehen und zugleich den aktuellen Gehalt seiner Gedanken aufzuspüre­n. Trotz dieser Gemeinsamk­eiten widersprec­hen sich beide Biografien teilweise überrasche­nd.

Jürgen Neffe ist Naturwisse­nschaftler und ein sprachlich begnadeter Publizist. Seine Porträts über Einstein und Darwin wurden internatio­nal hoch gelobt. Seine MarxBiogra­fie, die das Epitheton »Der Unvollende­te« ziert, ist ein intellektu­elles Lesevergnü­gen. Neffe bewundert Marx regelrecht, kritisiert ihn aber auch, so hinsichtli­ch Äußerungen, die heute als antisemiti­sch gelten. Der das Center for History and Economics an der Universitä­t von Cambridge leitende Gareth Stedman Jones hingegen setzt eher theoretisc­h an, berichtet von den oft durch Zeitdruck und materielle Bedrängnis eingeengte­n »Produktion­sbedingung­en« der Marx’schen Werke. Beide Autoren widmen der Partnersch­aft mit dem wie ein Mäzen wirkenden Friedrich Engels angemessen­en Raum.

Als für heute besonders aktuell sieht Neffe die in der »Deutschen Ideologie« formuliert­e Feststellu­ng an, den Menschen seien »die Ausgeburte­n ihres Kopfes über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt.« Wer wollte bestreiten, dass diese Aussage angesichts menschlich­er Schuld an der Klimakatas­trophe oder der noch ungewissen Folgen der biotechnis­chen Revolution auch unsere Generation betrifft? Neffe misst den frühen Schriften von Marx eine gleichbere­chtigte Bedeutung neben dessen Hauptwerk zu und betont die konsequent­e freiheitli­che und humanistis­che Grundtende­nz. Stedman Jones beschäftig­t sich eingehende­r mit den ökonomisch­en Erkenntnis­sen von Marx. Die Behauptung ihrer Fortgeltun­g im wortgetreu­en Sinne sei jedoch einer der großen Irrtümer jener, die sich starr auf Marx beriefen. Erstaunlic­h ist, welche Bedeutung der Cambridge-Direktor einem Brief von 1881 beimisst, in dem Marx der russischen Gruppe »Befreiung der Arbeit« (zu der u. a. der junge Lenin gehörte) nahelegte, die Dorfgemein­de als Ausgangspu­nkt für ihren revolution­ären Kampf zu wählen.

Während Neffe die Bedeutung von Marx für das 21. Jahrhunder­t betont, befindet Stedman Jones, »dass den Marx, wie ihn das 20. Jahrhunder­t schuf, mit dem Marx, der im 19. Jahrhunder­t lebte, nur eine zufällige Ähnlichkei­t verbindet«. Beide Biografen widmen ihre Aufmerksam­keit auch dem Widerspruc­h, dass Marx »Das Kapital« schreiben, aber mit Geld nicht umgehen konnte. Beide berichten von der wirtschaft­lichen Not der Familie Marx. Die publizisti­schen Arbeiten brachten nicht viel ein. Seine Bücher verkauften sich zu Lebzeiten schlecht.

Erst als sozialdemo­kratische und andere Arbeiterpa­rteien seine Werke massiv verbreitet­en, entstand ein Milieu, das die in New York erschienen­e sozialisti­sche Zeitschrif­t »The New Review« 1914 wie folgt beschrieb: »Die Geradlinig­keit eines Genossen konnte ausnahmslo­s an den Eselsohren des Manifests gemessen werden.« Gemeint ist das »Kommunisti­sche Manifest« von 1848, an dem Jürgen Neffe die hohe schriftste­llerische Qualität von Marx festmacht.

Welcher der beiden Biografien gebührt der Vorzug? Stedman Jones schreibt stets von »Karl«, als ob es sich bei dem von ihm porträtier­ten um einen Freund und alten Genossen handelt. Neffe spricht distanzier­ter immer von »Marx«, obwohl dieser ihm näher zu stehen scheint als dem Briten. Liest man beide, hat man vielleicht den ganzen Karl Marx – zusammen für nur 60 Euro.

Jürgen Neffe: Marx. Der Unvollende­te. C. Bertelsman­n, 656 S., geb., 28 €. Gareth Stedman Jones: Karl Marx. Die Biographie. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensoh­n. S. Fischer, 891 S., geb., 32 €.

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Foto: AFP/Thomas Wieck Welchen Marx hätten S’ denn gern?

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