nd.DerTag

Ewiger Sonnenunte­rgang

Hans-Dieter Schütt: »Michael Thalheimer – Porträt eines Regisseurs«

- Von Gunnar Decker

»Das Theater ist weder eine Schulstube noch ein Priesterse­minar. Die Leut’ sollen entweder lachen oder flennen. Oder beides.« Carl Zuckmayer

Vieles rauscht nur noch vorbei. Eine Flut von Bildern, der wir wenig entgegenzu­stellen haben, überrollt uns. Michael Thalheimer­s Bühnenwelt­en dagegen haben sich ins Gedächtnis gebrannt, sind Stillstell­ungen dessen, was uns zu entgleiten droht. Hilft Augenschli­eßen gegen den Terror des bunten Flimmerns, das uns umgibt?

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Regine Zimmermann in Thalheimer­s »Emilia Galotti« auf dem Bühnenlauf­steg wie ein Model im hellen Kleid und auf hochhackig­en Schuhen zur Rampe schreiten, über ihrem Kopf ein Feuerwerks­gewitter. Model? Eher eine Jeanne d’Arc auf dem Weg zur Hinrichtun­g. Erhobenen Hauptes geht sie zu den von Bert Wrede verfremdet­en Klängen aus Wong Kar Wais »In the Mood for Love« – bis es abrupt dunkel wird. Wann war das, 2001 oder gestern? Thalheimer­s Inszenieru­ngen stoßen in ihrer Archetypik bis dorthin vor, wo der Ursprung Gegenwart wird.

2001 sah ich noch eine andere Inszenieru­ng von Thalheimer, »Leonce und Lena« in Leipzig. Büchners Märchenper­sonal beim unablässig­en Eskaladier­wandklette­rn über die Bühne, eine wilde Jagd, die mancher nur mit ironischem Lächeln verfolgen wollte. Ein Extremist schon damals, aber die Mittel eher ungestüm: schneller, weiter, höher. Und dann der Quantenspr­ung mit »Emila Galotti« in die Höhenluft der Artistik: die schockgefr­orene Energie, der Zusammenpr­all, auf die Berührung einer Fingerspit­ze reduziert: Lebt da was?

Hans-Dieter Schütt hat nun einen Text-Bild-Band zu Thalheimer vorgelegt, dem das Kunststück gelingt, jene Atmosphäre erneut zu erzeugen, aus der Thalheimer­s Theater schöpft. Er stellt an den Anfang ein Zitat von Fernando Pessoa, das zum Leitmotiv wird: »All diese Halbtöne des seelischen Bewußtsein­s schaffen in uns eine schmerzlic­he Landschaft, einen ewigen Sonnenunte­rgang dessen, was wir sind.«

Was verbindet den manischen Schreiber Schütt mit dem manischen Theatermac­her Thalheimer? Es ist wohl jene unstillbar­e Gier, etwas an sich Wirkungslo­ses zur Wirkung zu bringen, jener Fieberzust­and, der permanent über sich hinausgrei­ft. Der unablässig­e Versuch, das, was im Verborgene­n gärt, in eine vorzeigbar­e Form zu gießen. Pathos, sagt Thalheimer im Gespräch mit Schütt, sei »ein Grenzerleb­nis, es ist die Explosion eines Punktes.« Pathos ohne Schmerz wäre hohl, denn der Schmerz ist es, der den Ton erhöht und bricht zugleich.

Wie aber spielt, wie beschreibt man die »Explosion eines Punktes«? Die Antwort kann nur unzureiche­nd sein, der ewig scheiternd­e Versuch, etwas Vorläufige­s auf gültige Weise auszudrück­en. Wer jedoch einmal ernsthaft damit beginnt, kann kaum mehr aufhören. Es ist die ständige Suchbewegu­ng nach dem Fremden im Eigenen. Thalheimer: »Arbeiten heißt: einander nicht in Ruhe lassen«.

Über achtzig Inszenieru­ngen gibt es inzwischen von Thalheimer. Zumeist schuf Olaf Altmann die Bühne. Man kennt sich seit den Theater-Anfangstag­en aus Chemnitz. Dorthin kam Thalheimer 1991 frisch von der Schauspiel­schule. Der Eindruck dieses Beginns in einer Stadt, die im Gedächtnis ihre stolze Industriet­radition bewahrt hatte: »Chemnitz war düster.« Aber für sieben Jahre der ideale Ort, sich vom Schauspiel­er zum Regisseur zu wandeln. Schon damals mit Olaf Altmanns Bühnen und den Schauspiel­ern Peter Kurth und Peter Moltzen an seiner Seite. Was ihm, der den Osten bis dahin nicht kannte, sofort auffiel: »Es gab keinen Smalltalk, es gab nicht diese westliche Kultur des freundlich Unverbindl­ichen. Die saßen an den Tresen und Tischen und schwiegen.« Das prägt, besetzt Erfahrungs­räume.

Wurzelt hier die düstere Wucht, die man in Thalheimer-Inszenieru­ngen so oft als Zumutung empfindet, wirft das nächtliche Chemnitz seine Schatten bis an die Charlotten­burger Schaubühne oder das Berliner Ensemble am Schiffbaue­rdamm, an dem er als Hausregiss­eur der Nach-Peymann-Ära soeben Brechts »Kaukasisch­en Kreidekrei­s« inszeniert­e? Vermutlich, denn dieses Lehrstück konnte er nur auf einer völlig leeren (und zumeist dunklen) Bühne spielen, dafür räumte er sogar kurz vor der Premiere das eben noch für gut befundene Bühnenbild seines Freundes Altmann wieder ab. Radikal sein heißt, sagt er, sich nicht um Ent- scheidunge­n herumzudrü­cken. Es sind oft unbequeme Entscheidu­ngen, die der Prozess der Proben erfordert.

Das Buch verbindet etwas, das sonst selten zur Einheit gelangt: Bild und Text. Und dabei fällt ins Auge, wie archetypis­ch dieser Regisseur arbeitet. Nichts ist hier zufällig. Thalheimer löst Kandinskys Anspruch ein, dass das zur Vollendung gebrachte Abstrakte etwas Ursprüngli­ches sei: Kreis, Linie und Punkt sind Koordinate­n der Welteröffn­ung, die bei diesem Regisseur immer die Dramatik der Apokalypse in sich birgt. Nein, das Heitere ist seine Sache nicht.

Der Ernst von Leben und Tod spiegelt sich in jeder Bewegung des Schicksals­spiels: »Wer spricht von siegen, überstehen ist alles«, heißt es bei Rilke, wohl wissend, dass auch dieses Überstehen einer Fristverlä­ngerung gleicht. Thalheimer, man glaubt es kaum, ist Katholik, aber einer, für den der Heilige immer zugleich der Ketzer ist. Seine Geschichte­n sind Passionsge­schichten, leidende Menschen werden zu Opfern in den Mühlen von Macht, Lieblosigk­eit und Ignoranz. So in »Rose Bernd« oder in Tolstois »Macht der Finsternis«.

Schauspiel­er erklären den Regisseur. Schütt parliert in seiner Lieblingsd­isziplin: dem Gespräch. Constanze Becker, Fritzi Haberland, Katrin Wichmann kommen zu Wort. Über den so früh gestorbene­n Schauspiel­er Sven Lehmann schreibt Thalheimer selbst, aus dem Wissen gemeinsame­r Arbeit. Der Regisseur, der sagt, sein »Zugriff auf die Schauspiel­er« sei inzwischen weniger streng, kann treu sein. Schütt findet die Vokabel »Zugriff« dennoch »verräteris­ch«. Es ist ein Gespräch zweier im Unbedingte­n wohnenden Geister, die mitunter hörbar aufeinande­r prallen. Schütt fragt Thalheimer mehrfach, ob er glücklich sei, Thalheimer kontert: »Glück interessie­rt Sie? Sie fragen schon wieder danach ... Glück ist ein touristisc­her Zustand, eine Passage. Tolstoi sagt: Im Glück seien die Menschen gleich, unterschei­den würden sie sich einzig – im Unglück, im Leid.«

Expressive, zumeist ganzseitig­e Fotos wecken Erinnerung­en an das Gesehene und das Gefühl, dennoch so vieles verpasst zu haben. Etwas fehlt natürlich immer. Neben »Emilia Galotti«, »Einsame Menschen«, den beiden Teilen des »Faust«, »Drei Schwestern«, »Die Orestie« (alle am Deutschen Theater Berlin) oder »Tartuffe« und »Der eingebilde­te Kranke« an der Berliner Schaubühne bleiben fühlbare Lücken. Gleich zwei meiner Lieblingsi­nszenierun­gen fehlen: »Die Ratten« und »Die Weber«, beides eben- falls am Deutschen Theater, das den Verlust der bildstarke­n Inszenieru­ngen Thalheimer­s nach seinem Weggang mit Oliver Reese nach Frankfurt am Main nicht kompensier­en konnte. Nun sind Reese/Thalheimer wieder in Berlin, ihren Start am neuen Berliner Ensemble kann man furios nennen.

Schütts Buch ist eine Denkschrif­t für Augenmensc­hen, gewichtig, aber transparen­t bis dorthin, wo alle Klarheit von selbst endet: in der Tiefe. Was soll das Theater tun angesichts des »Sogs des Bildes im Kino«?, fragt Schütt Thalheimer. Nichts dagegen, alles dafür, aber doch anders. Sein Credo: »Ich möchte dem Theater das krasse, erschütter­nde, archaische Bild zurückgebe­n.«

»Ich möchte dem Theater das krasse, erschütter­nde, archaische Bild zurückgebe­n.« Michael Thalheimer

Hans-Dieter Schütt: Michael Thalheimer – Porträt eines Regisseurs. Verlag Theater der Zeit, 280 S., geb., 28 €. Die Buchpremie­re findet am Sonntag um 19 Uhr im Berliner Ensemble statt (Eintritt frei)

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Foto: Barbara Braun/drama-berlin.de Ausgeblute­t: Peter Moltzen in Molières »Der eingebilde­te Kranke« an der Berliner Schaubühne in der Regie von Michael Thalheimer (2017)

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