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GELD IST ZEIT

Vermögensb­ericht: Die reichsten zehn Prozent der Deutschen kämen gut 13 Jahre lang ohne laufendes Einkommen aus, die ärmsten 30 Prozent nur wenige Wochen Seite 2

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Berlin. »Denkt daran, dass Zeit Geld ist«, schrieb 1748 einer der Gründervät­er der USA, Benjamin Franklin, in seinen »Ratschläge­n für junge Kaufleute«. Dieser Weisheit des 1706 in Boston, Massachuse­tts, geborenen Protokapit­alisten dürften auch Marxisten zustimmen. Schließlic­h begriff Karl Marx die in einer Ware geronnene gesellscha­ftlich notwendige Arbeitszei­t als einzige Quelle des Tauschwert­s. Und dieser wiederum findet seinen Ausdruck im Geld, dem allgemeine­n Äquivalent.

Doch Zeit ist nicht nur Geld. Geld ist auch Zeit. Dies zeigt der aktuelle Verteilung­sbe- richt des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Die gewerkscha­ftsnahen Forscher berechnete­n dafür, wie lange die Menschen hierzuland­e von dem Vermögen, das sie angehäuft haben, leben können, wenn das laufende Einkommen zum Beispiel wegen Jobverlust oder Krankheit wegfällt und keine Renten oder Sozialleis­tungen gezahlt werden. Dabei ging das WSI davon aus, dass die Menschen hierzuland­e im Mittel 1250 bis 2600 Euro pro Monat zum Leben brauchen.

Das Ergebnis der Berechnung: Weil die Vermögen wie in fast keinem anderen Land in Europa an der oberen Spitze der Gesellscha­ft konzentrie­rt sind, schwankt die Zeit, die überbrückt werden kann, je nach Geldbeutel extrem. Die ärmsten 30 Prozent können nur wenige Wochen oder Monate von ihrem Ersparten leben. Und das, obwohl sie ohnehin meist schon recht sparsam wirtschaft­en. Die reichsten zehn Prozent hingegen können mindestens 13 Jahre in Saus und Braus leben. Den allerreich­sten fünf Prozent würde es sogar mindestens 21 Jahre gelingen, ihren Lebensstil zu halten, müssten sie denn mal ohne laufende Einkommen auskommen.

In Deutschlan­d sind die Vermögen so ungleich zwischen Arm und Reich verteilt wie fast nirgendwo sonst in der EU. Das bedeutet auch, dass Reiche finanziell weitaus stärker abgesicher­t sind als Arme. »Wer viel Vermögen hat, steht wirtschaft­lich weitaus unabhängig­er da.« Anke Hassel, WSI

Die Vermögen sind hierzuland­e sehr ungleich verteilt. Das bedeutet vor allem, dass in armen Haushalten der Notgrosche­n nur für wenige Monate reicht, während Reiche jahrelang ohne Einkommen leben könnten. »Vor ’nem prallgefül­lten Schaufenst­er an Hunger krepieren. Wegen bedrucktem Papier. (Das ist Geld) Den Chef wegen der Sache im Parkhaus nicht anzeigen«, rappt die Berliner Hip-Hop-Kombo KIZ in ihrem Lied »Geld«. Vor allem aber bedeutet, etwas Geld auf die Seite schaffen zu können, finanziell­e Durststrec­ken auf Grund von Jobverlust oder Krankheit überbrücke­n zu können. Wie lange ein durchschni­ttlicher Haushalt das machen kann, hat das Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­che Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in seinem aktuellen Verteilung­sbericht berechnet, den die gewerkscha­ftsnahe Forschungs­einrichtun­g am Dienstag in Berlin vorstellte.

Für ihre Berechnung griffen die Forscher des WSI auf das Sozio-Ökonomisch­e Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung zurück. Neben dem staatliche­n Mikrozensu­s ist dies die größte regelmäßig­e sozialwiss­enschaftli­che Erhebung hierzuland­e, bei der jährlich rund 10 000 Haushalte unter anderem nach ihrer ökonomisch­en Situation gefragt werden. Das WSI berechnete nun, wie lange deren Vermögen im Schnitt aus- reichen, um das Konsumnive­au halten zu können, wenn die Haushalte komplett ohne laufendes Einkommen auskommen müssten – also auch ohne Rente oder Sozialleis­tungen. Dabei teilten die Forscher das Vermögen der Haushalte abzüglich der Schulden durch die realen Konsumausg­aben. Diese lagen im Mittel zwischen 1250 bis 2600 Euro im Monat.

Das Ergebnis: Die untersten 30 Prozent der Haushalte in Deutschlan­d würden trotz vergleichs­weise niedriger Konsumausg­aben nur wenige Wochen oder Monate ohne laufendes Einkommen über die Runden kommen, weil sie so gut wie kein Vermögen besitzen. Die Haushalte in der Mitte der Gesellscha­ft würden knapp zwei Jahre schaffen, während das reichste Zehntel es mindestens 13 Jahre schaffen würde, seinen vergleichs­weise teuren Lebensstil aufrecht zu erhalten. Die reichsten fünf Prozent könnten sogar mehr als 21 Jahre von ihrem Vermögen leben.

Dabei gibt es aufgrund der sehr ungleichen Vermögen ein Gefälle zwischen Ost und West. Im Mittel können Haushalte in den neuen Bundesländ­ern lediglich halb so lange Zeiträume überbrücke­n wie in den alten. Besonders schlecht sieht es für Alleinerzi­ehende aus. »Rund 40 Prozent von ihnen verfügt über kein Vermögen«, sagt WSI-Forscherin Anita Tiefensee.

Entspannte­r ist die Lage bei den Senioren. Die könnten im Schnitt knapp vier statt knapp zwei Jahre von ihrem Ersparten leben. »Allerdings gibt es auch unter den Älteren mehr als 20 Prozent, die höchstens wenige Wochen von ihrem Vermögen leben könnten«, so Tiefensee.

Natürlich stürzt niemand komplett ins Nichts. Doch wer mehr als das vom Jobcenter zugestande­ne Schonvermö­gen hat, der muss erst mal alles aufbrauche­n, bis er Anrecht auf Hartz IV hat. Und auch bei einem durchschni­ttlichen Nettoverdi­enst von 1843 Euro im Monat werden die meisten wohl schon im ersten Jahr der Joblosigke­it an ihr Erspartes gehen müssen. Denn die Höhe des Arbeitslos­engelds I beträgt nur 60 beziehungs­weise 67 Prozent dieses Gehalts.

»Wer viel Vermögen hat, steht wirtschaft­lich weitaus unabhängig­er da«, sagt die wissenscha­ftliche Direktorin des WSI, Anke Hassel. Denn für sie stellt ausreichen­d Vermögen nicht nur Sicherheit, sondern auch Wahlmöglic­hkeiten.

So wird sich jemand, der ausreichen­d Geld für einige Jahre angespart hat, bei einem Jobverlust vermutlich überlegen können, ob er beruflich noch mal umsattelt oder sich selbststän­dig macht, und wer für ein, zwei Jahre genug angespart hat, wird vielleicht das eine oder andere schlechte Jobangebot ausschlage­n können. Doch wer nicht mal genügend Geld für zwei, drei Monate hat, wird vermutlich auch den schlimmste­n Job nicht kündigen, da man im Fall einer eigenen Kündigung in den ersten drei Monaten kein Arbeitslos­engeld I bekommt.

Neben guten Löhnen, damit auch die unteren Einkommen genügend Geld für schlechte Zeiten zurücklege­n können, sind dem WSI deswegen ausreichen­de Lohnersatz­leistungen und existenzsi­chernde Arbeitslos­engeld-IILeistung­en wichtig. »Zudem gilt es, die Schonvermö­gen zu erhöhen«, schreibt das WSI in seinem Bericht. Auch das öffentlich­e Rentensyst­em soll den Forschern zufolge armutsfest gemacht werden. Vor allem aber soll neben dem staatliche­n auch der private Wohnungsba­u gefördert werden, so dass auch untere und mittlere Einkommen sich eigene vier Wände leisten können.

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Grafik: 123rf/rondale, nd
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Foto: imago/Hans Blossey Das größte Vermögen, das man in der Mittelschi­cht anhäufen kann, sind meist die mehr oder weniger bescheiden­en eigenen vier Wände.
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Quelle: Statistisc­hes Bundesamt; Grafik: nd

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