Der Seiteneinsteiger
Ex-Gewerkschafter Thomas Lippmann ist neuer Chef der Linksfraktion in Sachsen-Anhalt
Mit Thomas Lippmann hat die Fraktion der LINKEN in SachsenAnhalt einen neuen Chef – einen, der erst seit 19 Monaten im Parlament sitzt und noch kürzere Zeit auch Genosse ist. Thomas Lippmann kann Kammerchor. Zwar scheut er auch die große Bühne nicht: Er singt mit, wenn der Universitätschor Halle Werke wie die »Carmina Burana« oder den »Messias« zu Gehör bringt, in großen Sälen und begleitet von einem Orchester. Seine eigentliche musikalische Heimat aber ist das Ensemble »Tonart«, ein gemischter Chor, in dem nur die Stimmen der Sänger die Musik machen. Lippmann ist dabei nicht auf eine Tonlage festgelegt: »Ich bin ein guter Bariton«, sagt er – einer jener begehrten Sänger, die im Bass wie im Tenor für Wohlklang sorgen.
Lippmanns Kammerchor hat 30 bis 35 Sänger – etwa so viele wie die Linksfraktion im Landtag von Magdeburg an Abgeordneten und Mitarbeitern zählt. In dieser gehörte der 55-jährige Hallenser seit der Wahl 2016 zu den deutlicher vernehmbaren Stimmen. Der langjährige Landeschef der Gewerkschaft GEW war als Neuling in das Parlament eingezogen, aber als Experte für Bildungspolitik fulminant durchgestartet. Die Kollegen im Bildungsausschuss stöhnen dem Vernehmen nach, er habe schon ausreichend Anträge für die gesamte Wahlperiode eingereicht. Nur 19 Monate später folgt jetzt der nächste Karrieresprung. Seit Dienstag ist Lippmann neuer Vorsitzender seiner Fraktion. Gut ein Jahr nach der Wahl wurde er mit 12 Ja-Stimmen bei zwei Enthaltungen als Nachfolger von Swen Knöchel zum Fraktionschef bestimmt.
Dirigieren war bisher nicht Lippmanns Metier – zumindest nicht in der Musik. Jetzt aber muss er seinem eher kleinen Ensemble möglichst schnell zu neuer Klangfülle und harmonischerem Auftritt verhelfen. An beidem hatte es zuletzt gefehlt. Die LINKE, die vor der Landtagswahl davon geträumt hatte, eine Koalition mit SPD und Grünen anführen zu können, fand sich in der Opposition wieder, auf 16 Abgeordnete gestutzt und oft übertönt von der krawalligen und zahlenmäßig stärkeren AfD-Fraktion. Schon das sei eine »deprimierende Situation«, sagt Lippmann. Zudem erwies es sich als wenig glücklich, dass nach der Wahl Knöchel an die Fraktionsspitze rückte. Der versierte Finanzfachmann trat nach außen weit weniger eloquent auf als der langjährige Amtsinhaber Wulf Gallert, der sich nach der Wahlniederlage zurückgezogen hatte. Innerhalb der Fraktion wiederum galt Knöchel als pedantischer, teils auch aufbrausender Chef. Das Klima litt so, dass der Hallenser zuletzt vom Fraktions- sowie vom Landesvorstand aufgefordert wurde, nicht erneut zu kandidieren.
Dass ihm ausgerechnet Lippmann folgt, ist freilich durchaus eine Überraschung. Zwar verfügt der Lehrer für Mathe und Physik über Erfahrungen als Leiter: 1990 wurde er mit gerade 28 Jahren Direktor einer Sekundarschule in Wallwitz, ab 1998 war er zunächst parallel dazu auch Landeschef der GEW. Zugleich ist er ein Neuling aber nicht nur in der Fraktion, sondern auch in der Partei, der er erst im Januar 2017 beitrat. Der Karrieresprung kommt angesichts dessen verblüffend schnell. Weil allerdings zwei erfahrene der 16 Abgeordneten gerade in den Bundestag wechselten, zwei weitere das Amt schon innehatten; weil sich Landeschef Andreas Höppner auf seine Parteifunktion be- schränken will und eine renommierte Politikerin wie Fraktionsvize Eva von Angern intern als nicht mehrheitsfähig gilt, kam Lippmann zum Zug. Er sei »immer jung und unerfahren« in Führungspositionen gekommen, sagt dieser – nun eben auch in der Politik, wo er »gewissermaßen ein Seiteneinsteiger« ist.
»Seiteneinsteiger« ist ein Begriff auf Lippmanns Fachgebiet. Es handelt sich um Menschen, die als Lehrer nicht ausgebildet sind, aber helfen sollen, den akuten Lehrermangel an Schulen auch in Sachsen-Anhalt zu kompensieren. Viele finden sich indes zwischen allen Stühlen und werden von Kollegen ebenso wie Eltern nur als »Notnägel« angesehen. Lippmann sieht sich derweil in der Pflicht, mehr zu sein als eine Notlösung: »Noch einen Versuch haben wir als Fraktion nicht«, sagt er. Ihm ist zuzutrauen, dass er dem Anspruch gerecht wird. Als Chef will er sich vor allem um die interne Kom- munikation unter seinen Fraktionskollegen kümmern. Deren Arbeitsmoral sei so ausgeprägt, dass »ich ihnen nicht erst das Arbeiten beibringen und alles kontrollieren muss«. Zugleich gilt auch Lippmann selbst als ausgesprochen fleißiger Arbeiter; er selbst sagt, er betreibe »recht großen Aufwand« – nicht nur bei seinem Leib-und-Magen-Thema Bildung. Zuletzt leistete er maßgebliche Vorarbeit auch für Gesetzentwürfe zur Personalvertretung oder zu Volksabstimmungen oder kümmerte sich um das Megathema Kinderbetreuung.
All das drohen freilich, auch das hat er in seinen 19 Monaten als Abgeordneter erfahren, eher fruchtlose Bemühungen zu werden. Anträge der Opposition verpuffen auch im Magdeburger Landtag in aller Regel wirkungslos; selbst die Übernahme einzelner Passagen durch die Regierungskoalition gleicht einem Wunder. Lippmann räumt ein: »Das entspricht nicht meinem Verständnis.« Dabei ist er nicht gänzlich unerfahren im Politikbetrieb: Von 2004 bis 2014 gehörte er einer Fraktion im Kreistag des Saal- und des späteren Saalekreises an, die sich aus von der Agenda 2010 enttäuschten Gewerkschaftern rekrutierte. Dort aber sei pragmatisch und fraktionsübergreifend gearbeitet worden, sagt Lippmann – anders als auf Landesebene. Er räumt ein, das »mentale Ankommen im Politikbetrieb« sei unter solchen Bedingungen schwierig. In den Ausschüssen würden Anträge in »fast unerträglichem Schneckentempo« abgearbeitet – um am Ende, wenn sie von seiner Fraktion kommen, ohnehin abgelehnt zu werden. Das sei nicht eben befriedigend, »wenn man hier nicht nur Staub wischen will«.
Lippmann würde lieber Staub aufwirbeln – auch mit einer Fraktion, die nicht nur fleißig arbeitet, sondern das ihren Wählern auch prägnanter zur Kenntnis gibt. Ihm schwebt vor, den »Markenkern« ihrer Politik in sechs oder sieben Schwerpunkte zu gießen, diese knapp formuliert nach außen zu tragen und jeweils »mit authentischen Personen« zu besetzen. Die knappen Ressourcen ließen sich so gezielter einsetzen; es müsste allerdings auch so manches Thema in den Hintergrund treten. Die Debatte will Lippmann auf der alljährlichen Klausurtagung im Januar führen. Die Kommunalwahl 2019 wäre eine erste Nagelprobe. Ob der Dirigent Lippmann und sein Kammerchor wirklich Erfolg haben, wird sich freilich erst bei der Landtagswahl 2021 zeigen. »Wir wollen zurück zu alter Stärke«, sagt Lippmann: »Und Rot-Rot-Grün bleibt weiter unser Anspruch.«
Dass Anträge der Opposition fast ausnahmslos abgelehnt werden und das Parlament quasi im »Schneckentempo« arbeitet, ist schwer erträglich für einen, der im Landtag »nicht nur Staub wischen will«.