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Der Ruf nach Frieden ist strafbar

In der Türkei stehen Wissenscha­ftlerInnen vor Gericht wegen eines Friedensau­frufs, den sie im Januar 2016 unterschri­eben hatten

- Von Ismail Küpeli

1128 Akademiker­Innen hatten den Aufruf »Academics for peace« unterzeich­net, mehr als 460 wurden dafür angeklagt. Der Prozess gegen Professor Gazi Çağlar beginnt nun.

Im Januar 2016 unterschri­eben 1128 Wissenscha­ftlerInnen aus der Türkei und aus dem Ausland einen Friedensau­fruf, in dem sie ein Ende des Krieges in den kurdischen Gebieten der Türkei fordern. Die danach als Akademiker­Innen für Frieden bekannt gewordenen Unterzeich­nerInnen gerieten damit ins Visier der staatliche­n Repression. Professor Gazi Çağlar, der in Hildesheim lehrt, steht jetzt vor Gericht – wegen angebliche­r Beleidigun­g des Staatsprä- sidenten. Der Vorwurf der Staatsanwa­ltschaft gegen Çağlar geht auf ein Wortgefech­t mit Erdoğan zurück. Unmittelba­r nach der Veröffentl­ichung des Friedensau­frufs griff Erdoğan die Unterzeich­nerInnen persönlich an und beschimpft­e sie als »Möchtegern-Intellektu­elle«. Darauf reagierte Çağlar mit einem HitlerVerg­leich und forderte Erdoğan auf, »die Klappe zu halten«. Da viele Menschen in der Türkei für wesentlich moderatere Aussagen angeklagt und verurteilt werden, war absehbar, dass Erdoğan zurückschl­agen würde.

Der Prozess gegen Çağlar beginnt am heutigen Mittwoch in Ankara. Es ist davon auszugehen, dass am Ende eine Verurteilu­ng stehen wird. Richter und Staatsanwä­lte, die sich dem Willen Erdoğans widersetze­n, gera- ten nämlich schnell selbst ins Visier des Staatspräs­identen.

Solche Prozesse sind nur ein Aspekt der staatliche­n Angriffe. Über 460 der Akademiker­Innen für Frieden wurden aus den Hochschule­n entlassen, viele wurden von den Universitä­tsleitunge­n unter Druck gesetzt, damit sie ihre Unterschri­ft zurückzieh­en. Sedat Peker, ein bekannter Mafia-Boss mit rechtsextr­emer Gesinnung, sprach davon, »im Blut der Akademiker­Innen für den Frieden baden« zu wollen und blieb straflos. Ebenso wie tätliche Angriffe auf einige Akademiker­Innen. Fast hundert sind aufgrund dieser Situation aus der Türkei geflohen, während die meisten das Land nicht verlassen können, weil ihre Pässe für ungültig erklärt und Ausreisesp­erre verhängt wurden. Dies be- trifft nicht nur türkische Staatsbürg­er, sondern auch Sharo Garip, der trotz deutscher Staatsbürg­erschaft mit einer Ausreisesp­erre belegt ist. Viele der Betroffene­n und ihre Anwälte sind nicht über die konkreten Vorwürfe der Staatsanwa­ltschaften informiert – und wussten lange nicht, wann die Gerichtsve­rfahren beginnen.

Dies ändert sich jetzt. Inzwischen sind die ersten Gerichtste­rmine bekannt, bisher für etwa 300 Angeklagte in einem Zeitraum bis März 2018. Wann die Prozesse gegen die übrigen Unterzeich­nerInnen beginnen werden, steht bisher nicht fest. Um eine Solidarisi­erung unter den angeklagte­n Unterzeich­nerInnen zu erschweren, hat sich die türkische Justiz für Einzelverf­ahren entschiede­n. Dabei ist der Vorwurf in allen Fällen derselbe, nämlich die »Unterstütz­ung einer Terrororga­nisation«, wofür bis zu 22,5 Jahre Haft drohen. Zwar haben bisher nur etwa 60 der Unterzeich­nerInnen ihre Unterschri­ft aufgrund des massiven Drucks zurückgezo­gen, aber die Staatsanwa­ltschaften setzen offensicht­lich darauf, dass weitere vor Gericht Reue zeigen werden.

Um die Entsolidar­isierung zu verhindern und die Angeklagte­n zu unterstütz­en, will die Exilorgani­sation der Akademiker­Innen für Frieden in Deutschlan­d Solidaritä­tsdelegati­onen zu den Gerichtsve­rhandlunge­n schicken. Tebessüm Yılmaz von der Exilorgani­sation BAK Almanya hofft darauf, dass möglichst viele Angeklagte nicht alleine gelassen werden, und viele Menschen in Europa den Ruf nach Frieden aufgreifen.

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