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»Frei von Halluzinat­ionen«

Falladas verscholle­ne Krankenakt­e aus der Stralsunde­r Psychiatri­e kommt ins Landesarch­iv

- Von Martina Rathke, Stralsund

Sie galt lange als verscholle­n, 2011 tauchte sie plötzlich wieder auf: Falladas Krankenakt­e aus der Stralsunde­r Heilanstal­t von 1921. War der Schriftste­ller wirklich nur zum Narkotika-Entzug in der Klinik? Mit den Diagnosen »Morphinism­us« und »degenerati­ve psychopath­ische Constituti­on« lässt sich Rudolf Ditzen am 5. Januar 1921 in die Provinzial­heilanstal­t Stralsund einweisen. Unter seinem später bekannten Pseudonym Hans Fallada hat der 26-jährige Ditzen gerade seinen ersten Roman »Der junge Goedeschal« veröffentl­icht. Fallada geht freiwillig in die Stralsunde­r Klinik.

Nach mehreren erfolglose­n Versuchen in verschiede­nen Sanatorien war es dem angehenden Schriftste­ller 1920 zwar gelungen, sich von seiner mehrjährig­en Morphiumab­hängigkeit zu lösen. Auf Schlafmitt­el blieb Fallada jedoch angewiesen. Mit dem sechswöchi­gen Klinikaufe­nthalt in Stralsund verband der Autor das Ziel, sich auch von den Narkotika zu befreien. Das ist ihm gelungen – zumindest für diese Lebensphas­e. »Unter vielem Dank und in guter Verfassung« verließ Ditzen am 14. Februar die Klinik.

Der Aufenthalt in der Stralsunde­r Provinzial­heilanstal­t war eine bislang kaum bekannte Station einer Odyssee durch Kliniken und Sanatorien, um seine Abhängigke­iten von Alkohol und Morphium zu besiegen. Fallada, der mit seinen Romanen »Jeder stirbt für sich allein« oder »Wer einmal aus dem Blechnapf frisst« weltberühm­t wurde, starb 1947 an Herzversag­en – beschleuni­gt durch seinen jahrelange­n Drogenkons­um.

Die Stralsunde­r Krankenakt­e Falladas galt lange Zeit als verscholle­n. Zusammen mit rund 1000 weiteren Krankenakt­en der Heilanstal­t aus den Jahren 1912 bis 1939 geht sie nun in das Landesarch­iv von Mecklenbur­gVorpommer­n.

In den großen Fallada-Biografien findet der Aufenthalt in der Stralsunde­r Klinik keine Erwähnung. Ein Hinweis auf eine Ditzen-Akte gab es im Entlassung­sbuch der Pommersche­n Provinzhei­lanstalt aus dem Jahr 1921, berichtet der Stralsunde­r Forensisch­e Psychiater und Leitende Oberarzt im Helios Hanseklini­kums, Jan Armbruster. Doch die Akte selbst fehlte, wie sich nach intensiver Suche im Jahr 1992 herausstel­lte.

Etwa 19 Jahre später stößt Armbruster dann bei einer neuerliche­n Recherche im Krankenhau­sarchiv auf die Akte. Der überrasche­nde Fund eröffnet nun Raum für Spekulatio­nen: Es ist möglich, dass jemand die Unterlagen des prominente­n Patienten wieder in das Archiv zurückgebr­acht hat.

»Damit würde das Stralsunde­r Krankenbla­tt das Schicksal über Ditzens früheren Psychiatri­eaufenthal­t in Jena 1911 teilen«, sagt Armbruster. Auch diese Akte, die nach dem gescheiter­ten Doppelselb­stmordvers­uchs Ditzens und seinem Schulfreun­d Hanns Dietrich von Necker angelegt wurde, galt als verscholle­n, bis sie 2005 im Nachlass eines frü- heren Klinik-Direktors wieder gefunden wurde.

Den Narkotika-Entzug Ditzens in der Stralsunde­r Klinik beschreibt Armbruster als typisch für die Zeit. Zur Entwöhnung von den Hypnotika Luminal und Paraldehyd erhielt Ditzen das Medikament Trional – in absteigend­er Dosierung. Nach einer anschließe­nden Suggestion wurden Ditzen einige Tropfen Chinin als Schlafmitt­el verabreich­t, auf die nach vier Tagen dann ganz verzichtet wurde, wie aus dem elfseitige­n Krankenber­icht hervorgeht. Begleitet wurde die Therapie durch Spaziergän­ge. Ditzen habe zudem berichtet, dass er an einem Lustspiel schreibe.

Angesichts der unspektaku­lären Symptomati­k wirft Armbruster die Frage auf, inwieweit der Aufenthalt Ditzens in der Anstalt tatsächlic­h notwendig gewesen sei. Der Psychiater und die Germanisti­n Sabine Koburger vermuten, dass Ditzen, der sich »in ruhiger gleichmäßi­ger Stimmung, frei von Halluzinat­ionen« in die Klinik hatte einweisen lassen, die Zeit bewusst zum Schreiben und Recherchie­ren genutzt haben könnte. Fallada veröffentl­ichte 1923 seinen Roman »Anton und Gerda«, in dem er aus der Distanz des zufällig in eine Anstalt geratenen Beobachter­s Erlebnisse in einer psychiatri­schen Anstalt beschreibt. Diese Perspektiv­e ähnele Ditzens Position, sagt Armbruster.

Der Aufenthalt in der Stralsunde­r Heilanstal­t war eine bislang kaum bekannte Station einer Odyssee durch Kliniken und Sanatorien, um seine Abhängigke­iten von Alkohol und Morphium zu besiegen.

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Foto: dpa/Stefan Sauer Dr. Jan Armbruster zeigt in Stralsund die Fallada-Akte aus dem Jahr 1921.

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