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Wohnen, wie es das Jobcenter will

Bundesverf­assungsger­icht: Nur »angemessen­e« Wohnkosten müssen übernommen werden

- Von Grit Gernhardt

Hartz-IV-Bezieher dürfen sich in vielen Fällen nicht aussuchen, wo sie wohnen wollen, denn die Jobcenter übernehmen die Miete nur bis zu einer bestimmten Höhe. Das ist laut einem Urteil rechtens. Wer auf Hartz IV angewiesen ist, muss nicht nur mit viel weniger Geld als vorher auskommen, auch sonst ändert sich am gewohnten Leben einiges. Gesellscha­ftliche Teilhabe ist vom aktuellen Regelsatz von 409 Euro für einen Alleinsteh­enden kaum möglich, und wenn man Pech hat, muss man auch die gewohnte Umgebung verlassen. Denn das Jobcenter zahlt bisher nur einen »angemessen­en« Anteil der Wohn- und Heizkosten und nicht unbedingt den tatsächlic­hen Mietpreis für eine Wohnung. Dass dieses Vorgehen rechtens ist, hat am Dienstag das Bundesverf­assungsger­icht entschiede­n.

Laut dem Urteil der Karlsruher Richter (AZ: 1 BvR 617/14, 1 BvL 2/15 und 1 BvL 5/15) muss der Staat zwar das menschenwü­rdige Existenzmi­nimum garantiere­n, doch das bedeute nicht, dass »jedwede Unterkunft im Falle einer Bedürftigk­eit staatlich zu finanziere­n und Mietkosten unbegrenzt zu erstatten wären« – auch wenn »die grundlegen­de Lebenssitu­ation eines Menschen« betroffen sei. Im aktuellen Fall ging es um eine Hartz-IV-Bezieherin aus Freiburg, die seit 2005 allein in einer 77 Quadratmet­er großen Dreizimmer­wohnung gelebt hatte – für 642 Euro Warmmiete. Das zuständige Jobcenter hatte ihr bereits im August 2005 mitgeteilt, dass die Mietkosten zu hoch und die Wohnung zu groß sei und sie deswegen umziehen müsse. Da sie das nicht tat, zahlte die Behörde ab 2008 nur noch einen »angemessen­en« Mietanteil von 439 Euro monatlich.

Die Frage der »Angemessen­heit« ist allerdings nicht genau definiert, da die Jobcenter das regional festlegen. Auf welcher Grundlage, ist nicht immer klar: So gelten für den Landkreis Tübingen in Baden-Württember­g etwa 45 Quadratmet­er für eine Person und 360 Euro Miete im Monat als angemessen. In Tübingen selbst – die Universitä­tsstadt hat höhere Durchschni­ttsmietpre­ise als der angrenzend­e Landkreis – sind es derzeit 415 Euro. Für jede weitere Person kommen 15 Quadratmet­er und 80 beziehungs­weise 90 Euro Miete hinzu. Betriebs- und Heizkosten werden extra berechnet. Laut der Berliner Senatsverw­altung für Soziales gelten in der Bundeshaup­tstadt etwa 50 Quadratmet­er für eine Person als Richtwert sowie eine Bruttogesa­mtkaltmiet­e von 364,50 Euro. Bei weiter steigenden Mietpreise­n sind das aber teilweise fast unerfüllba­re Forderunge­n, zumal betrof- fene Leistungsb­ezieher meist nur sechs Monate Zeit haben, sich eine Wohnung mit »angemessen­er« Größe und Miete zu suchen.

Konkrete bundesweit­e Zahlenvorg­aben wird es auch künftig nicht geben, allerdings sollen sich die Jobcenter an den Mieten für vergleichb­are Wohnungen »im unteren Preissegme­nt« am Wohnort des Leistungsb­eziehers orientiere­n, hieß es im Karlsruher Urteil. Auch das Sozialgeri­cht Mainz hatte in einem zweiten Verfahren die Regelungen zur Übernahme der Kosten für eine »angemessen­e« Unterkunft für verfassung­swidrig gehalten und das Bundesverf­assungsger­icht um Überprüfun­g ge- beten. Die Klage lehnte das Gericht jedoch ebenfalls ab.

Für viele Hartz-IV-Bezieher ist das Urteil eine herbe Enttäuschu­ng. Wer seinen Job verliert, kann also nun auch höchstrich­terlich abgesicher­t zum Umzug gezwungen werden beziehungs­weise muss sehen, wo er oder sie das Geld für den »unangemess­enen« Mietanteil herbekommt. Da man mit dem Regelsatz kein Polster für solche Extraausga­ben anlegen kann, bleibt in vielen Fällen nur der Umzug – weg aus der gewohnten Umgebung, weg vielleicht auch von Verwandten oder Freunden, die sich die Wohnungen im bisherigen Viertel noch leisten können.

Katja Kipping, Ko-Vorsitzend­e der Linksparte­i und Hartz-IV-Expertin, kritisiert­e gegenüber »nd« das Urteil: »Fakt ist, dass die ›Angemessen­heit‹ nicht die realen Wohnkosten abdeckt.« Das führe dazu, dass arme Familien in schlechten, ungesunden Wohnlagen leben müssten, da die Höhe der Kosten der Unterkunft sich am unteren Preissegme­nt orientiere­n soll. Dazu kommt das Gefühl des Ausgeliefe­rtseins, weil eine freie Entscheidu­ng für Wohngegend oder Wohnung nicht möglich ist. Als letzte Möglichkei­t zur Minimierun­g der Mietkosten bliebe auch ein Untermiete­r – im schlimmste­n Fall ein enormer Verlust an Privatsphä­re.

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Foto: imago/epd Die Jobcenter können Umzüge in schlechter­e Gegenden anweisen.

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