Offene Wunde Palästina
120 Jahre Konflikte und Kriege: ein Teilungsplan und seine Folgen.
Das Ringen um das nationale Selbstbestimmungsrecht des arabischen Volkes von Palästina hat ein historisches Datum: den 29. November 1947. An diesem Tag vor 70 Jahren beschloss die noch kleine Organisation der Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabisch-palästinensischen Staat; die wirtschaftliche Einheit des Landes sollte gewahrt werden und Jerusalem sollte als Stätte religiöser Begegnungen einen internationalen Status erhalten. Das Volk Palästinas wurde nicht gefragt. »Hätte man uns damals gefragt«, sagte mir 1976 Jassir Arafat, Präsident der PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation, »wir hätten eine bessere Lösung für beide Völker gefunden.«
Einen Staat Israel zu schaffen, war der leitende Gedanke des I. Jüdischen Weltkongresses, der im August 1897 in Basel stattfand. Auf diesem Kongress hatte der Wiener Schriftsteller Theodor Herzl (Hauptwerk: »Der Judenstaat«) die Idee vorangebracht, das von Arabern besiedelte Land Palästina, das eine jüdische Minderheit hatte, jüdisch zu besiedeln. Herzls Idee war eine Reaktion auf die antijüdischen Pogrome und Diskriminierungen in Osteuropa des
19. Jahrhunderts.
Diese Idee brachte der britische Außenminister Lord Balfour auf die Ebene staatlicher Politik, als er am 2. November 1917 eine Erklärung herausgab, in der er eine »jüdische Heimstatt« in Palästina vorschlug. Nicht die »jüdische Heimstatt«, wie sie in Umrissen auch Jassir Arafat in föderativer Eintracht von arabischen und jüdischen Palästinensern dachte, sondern der »Staat Israel« wurde am
14. Mai 1948 gegründet. Er war zweifellos im Verständnis der Überlebenden von Auschwitz eine Antwort auf den antijüdischen Völkermord der Nazis. Die Vernichtung von europäischen Juden durch die Nazis war jedoch nicht der Grund für die jüdische Staatsbildung. Der Holocaust war der stärkste Antrieb, Herzls Vorschlag zu verwirklichen.
In dem Konzept war der religiös verkleidete Mythos eine treibende Kraft, den Staat Israel wiederherzustellen, wie er in der Frühgeschichte vor 3000 Jahren bestanden hatte. Der 2014 verstorbene General Ariel Scha-
ron har das unumwunden klargestellt. Heute dient dieser Mythos der herrschenden politischen Klasse als Begründung der territorialen Expansion in die arabischen Gebiete. Die stärkste Verankerung hat dieser Mythos in den jüdischen Siedlern auf dem Gebiet des restlichen arabischen Palästinas.
Nach der Gründung des Staates folgte der erste arabisch-israelische Krieg 1948/49 gegen die verstärkte jüdische Landnahme. Etwa 900 000 Palästinenser wurden von Haus und Hof vertrieben. Die Tötung und Vertreibung der Palästinenser schilderten sachlich und anklagend ein amerikanischer und ein französischer Beobachter, der Soldat Larry Collins und der Journalist Dominique Lapierrre,
in ihrem dokumentarischen Bericht »O Jerusalem« von 1972.
Dem ersten Krieg schloss sich 1956 der zweite an, der weitere Zehntausende von Palästinensern zur Flucht aus ihrem Besitz veranlasste. Danach folgte 1967 der dritte Krieg mit der Besetzung des West-Jordanlandes, der Annexion Ost-Jerusalems und der syrischen Golanhöhen, verbunden mit verstärkter Expansion jüdischer Siedler in arabische Gebietes und weiterer Vertreibung der Palästinenser. Und dies wenige Jahre nach der feierlicher Verkündung der Charta der Vereinten Nationen, die jedem Volk das Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit zuspricht. 1973 folgte der vierte Krieg und 1982 der fünfte als Angriffskrieg gegen Liba-
non, dem Fluchtort der PLO, die als Stimme des palästinensischen Widerstandes zerschlagen werden sollte. Mit diesem Krieg ist der Überfall einer im israelischen Dienst stehenden libanesischen Miliz auf die palästinensischen Flüchtlingslager in Sabra und Schatila verbunden – mit geschätzt 3000 Toten. Frauen, Kinder und waffenlose alte Männer. Ein Kriegsverbrechen, das ungesühnt blieb.
Die Palästinenser haben sich in mehreren Volksaufständen, so 1929 und 1936 bis 1939, gegen ihre Vertreibung gewehrt. Auch nach 1948 versuchten sie der Annexion und Zwangsherrschaft zu trotzen. Den vor 70 Jahren versprochenen palästinensischen Staat gibt es noch immer nicht, sondern nur ein fragiles Gebilde, das von einer Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas verwaltet wird.
Auf dem Boden Palästinas leben zwei Völker: das arabische Volk von Palästina, das aus dem Volk der Kanaanäer hervorging und seit Jahrtausenden hier ansässig ist, und das jüdische Volk, das vor 3000 Jahren die frühgeschichtlichen Staaten Israel, Samaria und Judäa bevölkerte und im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung Palästina verließ. Beide Völker, die Araber in Palästina und die Juden in Israel, stehen vor der Wahl, ob sie ein weiteres Jahrhundert um das Land kämpfen oder dem Vermächtnis ihrer Führer folgen: dem 1993 von einem jüdischen Siedler ermordeten israelischen Premierminister Yitzhak Rabin und dem 2004 verstorbenen PLO-Präsidenten Jassir Arafat. Die beiden haben vor 24 Jahren unter norwegischer Vermittlung in Oslo Grundsätze eines historischen Kompromisses erarbeitet, der weiterentwickelt beiden Völkern ein Leben in Frieden und Zusammenarbeit ermöglichen kann.
»Möge keiner sagen, er hätte es nicht gewusst!« Unter diesem mahnenden Titel legte der palästinensische Autor Faris Wogatzki jetzt eine umfassende Darstellung der Kämpfe und des Leidens des palästinensischen Volkes vor (Zambon Verlag, 471 S., br., 19,90 €). In ihrem Vorwort beklagt die jüdische Publizistin Evelyn Hecht-Galinski »das Schweigen und das Fehlen der Empathie, wenn es um das andauernde Leid der Palästinenser geht«. Sie geißelt »triefenden neuen Antisemitismus« in Deutschland, aber auch »Philosemitismus, der sich wie eine politische Epidemie verbreitet«. Sie verweist darauf, dass Räume für Konferenzen gekündigt werden, wenn sie das Thema »israelische Besatzung« behandeln. Die Tochter des 1992 verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, und Gründerin der deutschen Abteilung der Organisation »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« zitiert den südafrikanischen Bischof Desmond Tutu, der einmal sagte: »Wenn du dich in einer Situation der Unterdrückung neutral verhältst, hast du dich an die Seite der Unterdrücker gestellt.«