nd.DerTag

Assistenzs­ysteme eines harten Kurses

Bundesregi­erung hält an Abschiebun­gen nach Afghanista­n fest – ungeachtet der sich verschärfe­nden Sicherheit­slage

- Von Uwe Kalbe

Am Mittwochab­end sollten vom Frankfurte­r Flughafen 70 Flüchtling­e nach Afghanista­n abgeschobe­n werden. Es handele sich um Straftäter, so die Beschwicht­igung. Der Protest war dennoch deutlich. Auf dem politische­n Kalender des Bundesinne­nministers standen am Mittwoch zwei Vorhaben. Und beide dienten sie dem selben Zweck: der Verfeineru­ng des Systems zur Flüchtling­sabwehr. Für Protest sorgte eine am Abend vorgesehen­e Abschiebun­g afghanisch­er Flüchtling­e in ihre Heimat. Die vergleichs­weise niedrige Zahl von 70 Personen und der Hinweis darauf, es handele sich bei ihnen um Straftäter, soll die Öffentlich­keit offenbar an den Umstand gewöhnen, dass die Bundesregi­erung Abschiebun­gen auch in Kriegsgebi­ete für legitim hält. Thomas de Maizière wies darauf hin, dass solche Abschie- bungen politische Linie der Bundesregi­erung blieben. Er äußerte dies am Morgen bei einem Besuch des Bundesamts für Migration und Flüchtling­e (Bamf), wo es um die Verbesseru­ng der Identitäts­feststellu­ng von Flüchtling­en ging; hierfür steht künftig ein neues Assistenzs­ystem zur Verfügung. Flüchtling­e entziehen sich einem Asylverfah­ren oder ihrer Abschiebun­g durch Verschleie­rung ihrer Identität, so lautet gemeinhin der Vorwurf, der Pate bei der Erfindung solcher Assistenzs­ysteme steht. Plausibili­tät der Fluchtgesc­hichte ist ein wichtiges Moment der Asylentsch­eidung des Bundesamte­s.

Die wachsende Zahl erfolgreic­her Klagen gegen Asylentsch­eidungen zeigt zugleich, dass die Anhörungen, in denen Asylbewerb­er die Geschichte und Begründung ihrer Flucht glaubhaft machen müssen, nicht unbedingt mit allerletzt­er Sorgfalt, also der Suche nach Identität und Plausibili­tät, geführt werden. Dass bei den Verfahren nach vorgeferti­gten Mustern entschiede­n wird, legen auch die jüngsten Zahlen nahe: Danach lebten nach Rückfragen der Linksfrakt­ion an die Bundesregi­erung zuletzt 176 889 Personen aus Kriegsgebi­eten, vor allem Syrien, mit subsidiäre­m, also minderem Schutz in Deutschlan­d. Ende 2015 waren es noch 15 441 Personen – geändert hat sich seither nicht die Lage in Syrien, sondern die Behandlung der Flüchtling­e in Deutschlan­d. Subsidiär Geschützte müssen auf das Recht zur Familienzu­sammenführ­ung derzeit verzichten, es wurde für zwei Jahre ausgesetzt. Je mehr Menschen nur subsidiär geschützt sind, desto mehr Familienna­chzug »erspart« sich damit Deutschlan­d.

Grund ist hier vor allem die Sorge einer unkontroll­ierbaren Zahl von Angehörige­n. Dabei ergeben die Zah- len zum Familienna­chzug anerkannte­r Flüchtling­e, die ein Recht auf Familienzu­sammenführ­ung geltend machen können, dass die Größenordn­ungen überschaub­ar bleiben. Für syrische und irakische anerkannte Flüchtling­e ergab sich bei jüngsten Erhebungen ein Nachzugfak­tor von 0,5 pro Person. Die LINKE im Bundestag rechnet vor, dass auf dieser Grundlage mit einem Nachzug von etwa 65 000 Menschen zu ihren subsidiär geschützte­n Angehörige­n in Deutschlan­d zu rechnen sei – keine Zahl, die zu Panik Anlass sein kann.

Minister de Maizière nutzte seine Bamf-Besuch am Mittwoch, seine Linie zu bekräftige­n: Gefährder und Straftäter könnten auch künftig abgeschobe­n werden. Dieser Vorwurf trifft auch auf die 70 Afghanen zu, die am Abend – bei nd-Redaktions­schluss war die Aktion noch nicht vollzogen – abgeschobe­n werden sollten. Für 18 Uhr war eine Demonstrat­ion von Abschiebun­gsgegnern am Terminal 1 des Flughafens angekündig­t. Doch Flüchtling­sorganisat­ionen weisen auf die sich immer weiter verschärfe­nde Lage in Afghanista­n hin. Und für die LINKE intervenie­rte die Innenpolit­ikerin Ulla Jelpke mit der Klarstellu­ng: Menschen in den Krieg abzuschieb­en, sei weder eine strafrecht­lich noch menschenre­chtlich legitime Sanktion. Für eine »Abschiebun­g in Krieg und Terror« dürfe es daher kein Kriterium sein, ob jemand eine Straftat begangen hat oder nicht. Der Geschäftsf­ührer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, forderte, die Spirale der Inhumanitä­t zu stoppen. Bis Ende September gab es in diesem Jahr insgesamt 18 153 Abschiebun­gen, 80 davon nach Afghanista­n.

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