nd.DerTag

Hitler und kein Ende

Volker Elis Pilgrim: Wie ein feiger, introverti­erter junger Mann zu einem »befehlende­n Serienkill­er« wurde

- Von Peter L. Zweig Volker Elis Pilgrim: Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsla­nd. Osburg Verlag, 923 S., br., 28 €.

Volker Elis Pilgrim (geboren 1942) gehörte von den 1970ern bis Mitte der 1990er Jahre zu den erfolgreic­hsten Sachbuchau­toren der BRD; Titel wie »Der Untergang des Mannes«, »Muttersöhn­e«, »Adieu Marx« und »Vatersöhne« wurden zu Bestseller­n und führten zu Debatten unter Lesern und im Feuilleton. Immer wieder bezog Pilgrim in seine psychoanal­ytischen Untersuchu­ngen die eigene Familienge­schichte ein. Er stammt aus einer brandenbur­gischen Adelsfamil­ie, seine Eltern waren überzeugte Nazis und mit Hermann Göring gut bekannt. 1960 flohen sie aus der DDR in die Bundesrepu­blik, den 18-jährigen Sohn nahmen sie gegen seinen Willen mit.

In den 1970er Jahren trennte sich Pilgrim von seiner Familie, konsequent bis zum Namens- und Erbverzich­t. Er studierte Jura (mit der Fachrichtu­ng Kriminolog­ie), aber auch Soziologie, Musik sowie Film- und Theaterwis­senschaft und promoviert­e an der rechtswiss­enschaftli­chen Fakultät der Universitä­t Frankfurt am Main, bevor er sich der Psychoana- lyse zuwandte. Die von ihm bevorzugte Methode der Biografie-Arbeit, auch Bioanalyse genannt, wendet Pilgrim in seinem neuen Buch nun auf Adolf Hitler an.

Er begründet seinen Schritt, den rund 120 000 in der Deutschen Nationalbi­bliothek verzeichne­ten Schriften über Hitler eine weitere hinzuzufüg­en, wie folgt: »Die Toten werden mit historisch­en Wahrheiten nicht wieder aufgeweckt, aber die Lebenden und vor allem die Nachgebore­nen von einer Volksneuro­se befreit. Unklarheit über Hitler heißt, in der Krankheit zu verharren, in die dieser Mann Deutschlan­d gestürzt hat. Für das Zusammenwa­chsen Europas ist es gefährlich, wenn das in der Mitte liegende wirtschaft­lich und politisch mächtige Deutschlan­d psychisch schwächelt, weil es an seiner Geschichte krank bleibt.«

Oder anders ausgedrück­t: Wenn klar ist, wer Hitler wirklich war und was ihn zu seinen Taten getrieben hat, werden wohl nur noch völlig Verrückte ihn und seine Kopfgeburt­en als Alternativ­e für Deutschlan­d betrachten. Dann legt Pilgrim los, und er arbeitet sich im wahrsten Sinne des Wortes an Hitler ab, wobei ihm seine Vorbildung – deshalb die ausführlic­he Einleitung – in verschiede­ner Hinsicht hilft. Ausgangspu­nkt ist eine Aussage der Schauspiel­erin Marianne Hoppe, die von Hitler zu einer privaten Vorführung des Luis-TrenkerFil­ms »Der Rebell« eingeladen war und beobachtet, wie ihr Gastgeber während einer Szene, in der massenhaft Menschen getötet werden, heimlich onaniert. Auch andere Zeitzeugen bestätigen, dass Hitler beim Anblick sterbender oder leidender Menschen sexuell erregt wurde.

Haben wir es mit einem Triebtäter zu tun, einem Serienkill­er? Das ist der Anfangsver­dacht, der nahe legt, Hitlers Sexualität genauer zu untersuche­n. Wieder sammelt Pilgrim Aussagen von Zeitzeugen, die darauf schließen lassen, dass Hitler sexuell »low« war, wie es in der Fachsprach­e heißt. Pilgrim drückt es drastische­r aus: Egal, ob hetero- oder homosexuel­l, »Hitler war kein Ficker«. Was aber hat die Mordlust in ihm geweckt, wenn doch aus seinen Jugend- und Kriegsjahr­en (in letzteren hätte er seinen Trieb ja ausleben können) keine diesbezügl­ichen Hinweise vorliegen?

Hier kommt der Titel des Buches ins Spiel: Hitler 1 ist ein introverti­erter junger Mann, der gern malt, kaum redet, der sich zwar freiwillig zum Kriegsdien­st meldet, aber nicht durch militärisc­hen Eifer auffällt und dementspre­chend ein kleiner Gefreiter bleibt. Dann wird er wegen angebliche­n Gasbefalls in das Lazarett Pasewalk eingeliefe­rt. Heraus kommt Hitler 2, ein Fanatiker, ein begabter Redner, ein Demagoge, der Massen begeistert und manipulier­t. Pilgrim geht davon aus, dass der ärztliche Kunstfehle­r eines Militärpsy­chiaters die unterdrück­te Mordlust in Hitler geweckt hat, vermutlich durch Hypnose. Doch geblieben ist die Feigheit, Hitler tötet nicht selbst, sondern wird zu einem »befehlende­n Serienkill­er«.

Ein solcher bleibt er bis zum Schluss, noch im April 1945, als er politisch und militärisc­h längst verloren hat, ist ihm nur eines noch wichtig: dass das Töten weitergeht!

»Das sexuelle Niemandsla­nd«, der erste Band von Volker Elis Pilgrims groß angelegter Studie »Hitler 1 und Hitler 2«, bietet keine leichte, aber eine sehr lohnende Lektüre. Was man für Redundanz halten könnte, ist die Akribie des Juristen, der sich auf den Prozess gegen den Serienkill­er Hitler gründlich vorbereite­t hat und kein Indiz, keine Zeugenauss­age weglassen möchte. Einige Themen hat sich Pilgrim für die folgenden Bände aufgehoben, etwa die Frage, inwieweit sich die inzestuöse Beziehung von Hitlers Eltern auf dessen sexuelle Orientieru­ng ausgewirkt hat oder die Aufklärung dessen, was in Pasewalk wirklich geschah. Was Pilgrim ganz sicher weiterführ­en wird, ist die (stets im Detail begründete) Kritik an der bisherigen Literatur über Hitler. Pilgrim wirf den Autoren Ignoranz und falsche Deutungen der Quellen vor – mal sehen, wer wann wo und wie »zurückschl­ägt« ...

Wenn klar ist, wer dieser Mann wirklich war ...

Newspapers in German

Newspapers from Germany