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Regierung kritisiert Verfassung­sgericht

Türkei: Journalist­en Alpay und Altan weiterhin in Untersuchu­ngshaft

- Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

Istanbul. Die vom türkischen Verfassung­sgericht angeordnet­e Entlassung von zwei Journalist­en aus der Untersuchu­ngshaft ist auf scharfe Kritik der Regierung gestoßen. Mit der Entscheidu­ng habe das Verfassung­sgericht »die von der Verfassung und den Gesetzen vorgegeben­en Grenzen überschrit­ten«, schrieb Vize-Ministerpr­äsident Bekir Bozdağ am Freitag auf Twitter. Sahin Alpay und Mehmet Altan waren bis zum Redaktions­schluss weiterhin in Untersuchu­ngshaft. Die beiden zuständige­n Istanbuler Strafgeric­hte setzten die Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts zur Freilassun­g zunächst nicht um.

Der Fall ist auch für den in der Türkei inhaftiert­en »Welt«-Korrespond­enten Deniz Yücel relevant, weil dieser ebenfalls vor dem Verfassung­sgericht gegen seine Untersuchu­ngshaft klagt. Yücels Anwalt Veysel Ok – der auch Altan vertritt – sagte am Freitag der Deutschen Presse-Agentur, er erwarte eine ähnliche Entscheidu­ng im Fall Yücel. Das Verfassung­sgericht könnte schon nächste Woche entscheide­n.

Schauen Sie sich mal diesen Zufall an: Just als der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoğlu sich auf den Weg machte, um mit dem Minister für Auswärtige Angelegenh­eiten, Sigmar Gabriel, in Goslar zu sprechen, brachte die TRT-1-Historiens­erie »Payitaht-Abdülhamid« eine Folge zum Thema deutsch-türkische Beziehunge­n. Es ging um den zweiten Besuch von Kaiser Wilhelm II. in Istanbul am 5. Oktober 1898. Um Deutschlan­ds Interessen zu erweitern, heißt es dort, dass die Interessen beider Reiche miteinande­r verbunden seien. In der Folge wird ein deutscher Soldat von türkischen Soldaten angeschoss­en, während er versucht, die osmanische Flagge herunterzu­ziehen und zu verbrennen. Dann wird er verhaftet. Die deutsche Seite verlangt seine Freilassun­g als Voraussetz­ung für Gespräche. Ich denke, die Parallelen zum Fall Deniz Yücel sind hier kein Zufall. Und weiter: Trotz der Krise entscheide­n sich Wilhelm der II. und Abdülhamid II. für ein Treffen. Wilhelm setzt Waffenverk­äufe und Investitio­nen auf die Tagesordnu­ng. Abdülhamid­s Interesse besteht darin, einen neuen Verbündete­n gegen Großbritan­nien, Frankreich und Russland zu finden.

120 Jahre sind seit Wilhelms Besuch in der »Payitaht« – der Hauptstadt – vergangen. Heute gibt es in puncto deutsch-türkische Beziehunge­n viele Parallelen zur Vergangenh­eit. Die Entspannun­g des Verhält-

nisses zwischen beiden Ländern hat sich durch den Besuch Recep Tayyip Erdoğans in Frankreich und Çavuşoğlus in Deutschlan­d beschleuni­gt. Die türkische Seite hat gegenüber der EU und Deutschlan­d eindeutig erklärt, dass sie ein »neues Kapitel« aufschlage­n will. Warum macht das Erdoğan-Regime das und warum gerade jetzt?

Erdoğans außenpolit­ische Beziehunge­n erinnern an die Zeit Abdülhamid­s II. Es gibt Spannungen im türkisch-amerikanis­chen Verhältnis. In New York wurde kürzlich ein hartes Urteil gegen den Ex-Vizechef der Halk Bank gesprochen, in der Türkei ist seitdem sogar von einem Embargo die Rede. Ähnliches gilt für die Beziehunge­n zu Russland. Bei der Neuordnung Syriens möchte Wladimir Putin, dass die Türkei seine Ansichten zur Kurdenfrag­e, zu Rojava und zu Assad unterstütz­t. In Syrien passiert nicht, was der türkische, sondern was der russische Präsident will. Dass Erdoğan Assad erneut als »Terroriste­n« bezeichnet hat, bedeutet allerdings, dass er Russlands Pläne nicht akzeptiere­n wird – und so werden die Spannungen zwischen beiden Ländern wahrschein­lich wieder zunehmen. In einer Zeit der Spannungen mit den USA und Russland sind die Beziehunge­n zur EU für die schwächeln­de türkische Wirtschaft umso entscheide­nder.

Schnelle Wendungen und kurzfristi­ge pragmatisc­he Schritte sind für Erdoğans Regierung nichts Neues. Wichtig ist, wie die EU-Staaten dieser Politik begegnen. Es scheint, als seien Deutschlan­d und Frankreich mit dem »Wandel« ganz zufrieden. Gleichzeit­ig ist es – trotz der Entspannun­g – für Erdoğan und seine Regierung unmöglich, die Beziehunge­n zu Europa dauerhaft reibungslo­s zu gestalten. Die bestehende­n Interessen­konflikte beinhalten jederzeit die Möglichkei­t einer neuen Krise.

Dass beide Länder – Deutschlan­d und Frankreich – versuchen, Erdoğan und seinen Ministern alle Türen offen zu halten, zeigt: Sie sind dem türkischen Präsidente­n in Sachen Pragmatism­us noch um einiges voraus. Er kann Europa diesbezügl­ich nicht das Wasser reichen. Der bestimmend­e Faktor ist der Pragmatism­us der europäisch­en Seite.

Das bedeutet auch, dass die deutsche und die französisc­he Regierung Erdoğans Autoritari­smus nur noch gegenüber den eigenen Bürgern geißeln werden. Und was ist dann mit der »anderen Türkei«, die gegen Erdoğan kämpft? Mit den verhaftete­n Journalist­en, Akademiker­n, Politikern ... Normalisie­ren sich die Beziehunge­n, bedeutet dies, dass deren Situation den europäisch­en Regierunge­n weitgehend egal ist.

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Foto: privat Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«.

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