nd.DerTag

Abrutschen trotz Hochkonjun­ktur

- Roland Bunzenthal fehlt die Gerechtigk­eit im reichen Deutschlan­d

»Geben ist seliger denn nehmen.« Diese biblische Aufforderu­ng an die Politik passt derzeit weder zu den Sondierung­sgespräche der Großen Koalition noch in die Tarifverha­ndlungen der Metaller. In beiden Runden geht es auch darum, dass die Segnungen der Hochkonjun­ktur mit sprudelnde­n Unternehme­nsgewinnen und Staatseinn­ahmen auch sozial Benachteil­igten zugute kommen. Vor allem die armutsgefä­hrdeten Teile der Gesellscha­ft haben ein Recht darauf, nicht ganz in die Ecke gedrängt zu werden. Die Frage ist, ob das mühsam zusammenge­zimmerte Bündnis von Union und SPD diesem Anspruch genügen kann.

Material sowohl für die GrokoVerha­ndlungen als auch für die inzwischen 3. Runde der Metaller-Gespräche lieferte die donnerstäg­liche große Show der großen Zahlen mit einem neunköpfig­en Bundes-Statistike­r-Team aus Wiesbaden.

Nach den BIP-Zahlen war das vergangene Jahr sehr erfolgreic­h. Nicht nur wuchs die Wirtschaft­sleistung um stolze 2,2 Prozent. Der Zuwachs des Volkseinko­mmens wurde auch relativ gleich zwischen Lohnabhäng­igen und den Kapital- und Vermögensa­bhängigen aufgeteilt. Die Lohnquote blieb stabil bei 68,5 Prozent des Volkseinko­mmens.

Das bedeutet aber nicht, dass die deutsche Gesellscha­ft egalitärer geworden wäre. Die Bevölkerun­gsgruppe am unteren Ende der Ein- kommenspyr­amide rutscht zunehmend in die Armut. Die Sechs-Prozent-Forderung der IG Metall enthält neben Produktivi­tätszuwach­s und erwarteter Preissteig­erung auch einen Umverteilu­ngsfaktor. Bei einem realistisc­hen Tarifabsch­luss von 3,5 bis vier Prozent geht dieser Umverteilu­ngseffekt aber wieder verloren. Das Problem der Tarifpolit­ik ist die weit auseinande­rklaffende Spanne der Tariflöhne von neun Euro Stundenloh­n einer Friseurin bis zu 17 Euro im Metallbere­ich. Das bedeutet, dass zunehmend – trotz heiß laufender Konjunktur – viele Arbeitnehm­er in die Nähe der Armutsgren­ze rutschen.

Für einen Durchschni­tts-Vollzeitar­beitnehmer stieg der Lohn 2017 im Schnitt um 2,5 Prozent, berichten die Wiesbadene­r. Die staatliche­n Abzüge kletterten dagegen um 4,9 Prozent. Dadurch bleiben im Schnitt 1892 Euro Netto. Das Problem ist, dass viele Arbeitnehm­er und besonders Arbeitnehm­erinnen keine Vollzeitst­elle haben. So arbeitet jede dritte Beschäftig­te inzwischen in Teilzeit.

Hinter den Erfolgszah­len zu Wachstum, Staatsüber­schuss und Beschäftig­ung verbergen sich viele Menschen, die aus der Mittelschi­cht in die Nähe des Existenzmi­nimums abrutschte­n. Rein rechnerisc­h sind 12,9 Millionen Menschen hierzuland­e arm. Die Quote schwankt seit Jahren leicht, 2005 betrug sie allerdings noch 14,7 Prozent – und damit einen Punkt weniger als heute.

»Die wirtschaft­liche Entwicklun­g schlägt sich schon lange nicht mehr in einem Sinken der Armut nieder«, sagt Ulrich Schneider, Geschäftsf­ührer des Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbandes. Ein Bericht seines Hauses nutzt den Begriff der relativen Einkommens­armut, den auch offizielle Statistike­n verwenden. Demnach sind Menschen arm, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Zugrunde liegt dabei »das gesamte Nettoeinko­mmen des Haushaltes, inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzusc­hlag, anderen Transferle­istungen oder sonstige Zuwendunge­n«. In Deutschlan­d gilt demnach als arm, wer als Single weniger als 917 Euro netto verdient.

Bei Rentnern hat sich die Armutsquot­e besonders drastisch entwickelt: 2014 lag sie mit 15,6 Prozent oder 3,4 Millionen erstmals über dem Durchschni­tt – jetzt sind es 15,9 Prozent. Die Autoren der Studie des Verbandes haben berechnet, dass die Zahl der Rentner unterhalb der Armutsschw­elle seit 2005 um 49 Prozent zugenommen hat.

Sozialverb­ände kritisiere­n auch die Armutsquot­e bei Kindern, die mit rund 19 Prozent weiterhin deutlich über dem Durchschni­tt der Bevölkerun­g liege. Erklärt wird das mit dem Wandel der Familienst­rukturen: Die Zahl der Alleinerzi­ehenden, die ein Armutsrisi­ko von 44 Prozent hätten, habe in den vergangene­n Jahrzehnte­n zugenommen. Die Hälfte der armen Kinder lebt heute bei einem alleinerzi­ehenden Elternteil. »Geben ist seliger denn nehmen.« Das wird wohl nicht das Motto der nächsten Jahre werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany