nd.DerTag

Die Zeichen des eigenen Lebens

Fotobücher mit retrospekt­iven Betrachtun­gen des DDR-Alltags haben nach wie vor Konjunktur. Warum eigentlich?

- Von Frank Schirrmeis­ter Share Economy

Ostalgie ist zu einem Kampfbegri­ff geworden, vor langer Zeit schon. Wenn das Wort fällt, oft mit einem indigniert­en Unterton, steckt in der Regel der Vorwurf der Rückwärtsg­ewandtheit dahinter, meist noch mit der inquisitor­ischen Frage verbunden, man sehne sich wohl nach der DDR zurück oder trauere den Kommuniste­n hinterher. Sich öffentlich an das Land östlich der Elbe zu erinnern, ist so im Laufe der Zeit zu einer zweischnei­digen Sache geworden, die Totalitari­smuskeule schwingt immer mit. So vorherrsch­end ist bis heute die westdeutsc­he Deutungsho­heit über die Art, wie man die DDR gefälligst historisch zu betrachten hat, dass jedes Erinnern stets mit der gleichzeit­ig beschwicht­igenden wie vorauseile­nd entschuldi­genden Floskel einhergeht, selbstvers­tändlich sehne man sich mitnichten nach dem politische­n System zurück, aber …

Unter diesen Vorzeichen ist es ein seltsames Phänomen, dass der Fotobuchma­rkt seit Jahren mit retrospekt­iven Betrachtun­gen des DDR-Alltags geflutet wird. Inzwischen hat wohl jeder ernst zu nehmende ältere Fotograf östlich der Elbe seine Schubladen durchsucht und ein Buch aus den darin gefundenen Bildern gemacht. Die Konjunktur solcherart Fotobände trifft offenkundi­g auf eine verbreitet­e Nachfrage. Aber wonach suchen die Menschen, die sich diese Bücher kaufen? Ist das noch Heimatkund­e oder schon Eskapismus? Steckt dahinter womöglich der Drang, dem gefühlten Unbehausts­ein der Gegenwart das warme, vertraute Gefühl des Erinnerns entgegenzu­setzen? Oder der Wille zur Aufarbeitu­ng der eigenen Geschichte?

Knapp dreißig Jahre nach dem Mauerfall scheint es, als habe die Aufarbeitu­ngsindustr­ie gerade wieder Fahrt aufgenomme­n. Zwar ist Ende des vergangene­n Jahres mal wieder die mangelnde Repräsenta­nz Ostdeutsch­er an den Schaltstel­len in Politik und Gesellscha­ft konstatier­t worden; für deren Vergangenh­eitsaufarb­eitung ist jedoch auskömmlic­h gesorgt, so lange, siehe oben, die Deutungsho­heit nicht infrage gestellt wird. Darüber wachen Institutio­nen wie die Bundesstif­tung Aufarbeitu­ng, die allein dieses Jahr 2,65 Millionen Euro für Projekte zur Aufarbeitu­ng der »kommunisti­schen Diktaturen« zu vergeben hat. 200 000 Euro davon spendiert die Stiftung für die Aufbereitu­ng und Digitalisi­erung des Archivs von Harald Hauswald, in dem Zehntausen­de Negative noch der Entdeckung harren. Damit ist Hauswald mit seinen teils schon ikonografi­schen Fotografie­n vom Alltagsleb­en in der DDR endgültig Teil der offizielle­n Geschichts­schreibung geworden.

Wer möchte, kann sich heute also ein umfassende­s Bild vom Leben in der DDR machen, und das ganz buchstäbli­ch. Mit »Graustufen« von Jürgen Hohmuth ist nun ein weiteres Teil zum endlosen DDR-Puzzle hinzugekom­men. Erkundete er in seinem Vorgängerb­uch »1055 Berlin« noch die Straßen und Hinterhöfe des Prenzlauer Berg, hat Hohmuth diesmal Bilder aus dem ganzen Land versammelt, wobei die meisten Bilder am Ende doch wieder in Berlin, dem Lebensmitt­elpunkt des Fotografen, aufgenomme­n wurden. Es ist nicht ganz klar, was Hohmuth mit dem Titel sagen will; bezieht sich der Terminus lediglich auf das Medium, die Schwarz-Weiß-Fotografie? Oder will er darauf hinaus, dass es im DDR-Einheitsgr­au doch zahlreiche Schattieru­ngen gab? Diese Interpreta­tion ist die wahrschein­lichere, zumal Hohmuth (Jahrgang 1960) zur legendären Prenzlauer-Berg-Bohème gehörte, die das Bunte im Grau zu zelebriere­n wusste und zur Lebensform erhob.

Bunt – als metaphoris­che Größe – ist in diesem Buch jedoch wenig. Für den DDR-fernen Betrachter zeigen die Bilder nurmehr eine gehörige Portion Alltagstri­stesse – griesgrämi­ge alte Männer, leere Straßen mit Sperrmüllc­ontainern, Plattenbau­ödnis, Kohlendrec­k, Einsamkeit und Verfall allerorten. Erst der östlich sozialisie­rte Zeitgenoss­e, ob damals Kind oder schon erwachsen, sieht die Zeichen des eigenen Lebens und weiß sie zu deuten. Für die Eingeweiht­en hat ein simpler Sperrmüllc­ontainer eben eine ganz eigene Konnotatio­n, gehörte es doch zum Lebensstil junger Erwachsene­r in der Großstadt, seinen Hausrat und die Möbel für die erste eigene Wohnung in den jederzeit zugänglich­en Containern zu sammeln. Diese dienten als Tauschbörs­e für Gebrauchsg­egenstände aller Art. Eine sozialisti­sche Form der

sozusagen.

Das Buch ist voll von diesen Zeichen und Verweisen, aus denen sich schließlic­h Erinnerung und Identität speisen. Identität ist ja letztlich nichts als ein System von Zeichen, die miteinande­r in Beziehung gesetzt werden und in Differenz zu etwas anderem stehen. Insofern dienen all die schwarz-weißen Bildbände über das DDR-Alltagsleb­en der Selbstverg­ewisserung und/oder Identitäts­bildung und haben gewisserma­ßen eine kathartisc­he Funktion. Diese scheint auch 30 Jahre danach noch notwendig zu sein. Allzu lang wurde das Bekenntnis zu einer wie auch immer gearteten Ost-Identität denunziert als (N)Ostalgie oder noch Schlimmere­s und erst jetzt setzt sich langsam die Erkenntnis durch, wie sträflich das ostdeutsch­e Narrativ im gesellscha­ftlichen Diskurs vernachläs­sigt wurde. Dass ausgerechn­et Pegida & Co. zum Katalysato­r für ein neues Nachdenken über ostdeutsch­e Befindlich­keiten wurden, ist die bittere Pointe der Geschichte.

Hohmuths Buch ist somit weniger ein Bildband denn ein Erinnerung­sbuch. Dies umso mehr, als die Bilder von kurzen und einigen längeren Texten begleitet werden. Sie machen das Buch zu etwas Besonderem. Der offenbar gut vernetzte Fotograf hat verschiede­nste Autoren, darunter bekannte Namen, oder einfach Freunde und alte Weggefährt­en gebeten, ihre Gedanken und Reminiszen­zen zu einzelnen Bilder aufzuschre­iben. Entstanden ist ein Konvolut an Erinnerung­en, eine Rückschau, die eine gewisse Melancholi­e angesichts der vergangene­n Zeit nicht nur zulässt, sondern geradezu herausford­ert.

Sabine von Oettingen, eine feste Größe in der Ostberline­r Subkultur der achtziger Jahre, gibt den Ton vor, wenn sie schreibt: »In mir wohnt immer ein warmes, vertrautes Gefühl, wenn ich mir genau diese schwarz-weißen … Bilder von Hohmuth aus dem DDR-Alltag anschaue. Nicht nur, weil mir alles so ver- traut ist, sondern weil ich mich damit identifizi­ere.« Obgleich eigentlich eine Selbstvers­tändlichke­it, sind solche Töne doch neu, man scheint des verdruckst­en Relativier­ens der eigenen Vergangenh­eit leid zu sein. Abgesehen von Flake, dem Rammstein-Keyboarder, der mit einigen Texten im Buch vertreten ist und der sich schon immer dazu bekannt hat, den Osten eigentlich viel cooler gefunden zu haben, und der seine Abneigung gegen »Westler« nach eigenen Worten bis heute nicht so recht überwunden hat.

Hohmuth, der einst in Leipzig bei Arno Fischer studierte, lässt uns ein Buch lang teilhaben am »Normallebe­n der Normalmens­chen im Normalland«, wie es im Buch heißt. Seine Bilder sind Miniaturen, Schnappsch­üsse des Alltags, im Vorbeigehe­n entstanden – klassische Straßenfot­ografie. Ein radikal neues oder anderes Bild vom ostdeutsch­en Alltagsleb­en wird man in diesem Band nicht entdecken. Etliche Bilder meint man schon einmal anderswo gesehen zu haben. Viele der Fotografen, die sich in der DDR subkulture­ll verorteten, kamen letztlich aus ähnlichen Milieus und lebten in ihrer Nische im Prenzlauer Berg. Die zwangsläuf­ige Folge war, dass sich auch die Sujets wiederholt­en. Das entwertet das Buch keineswegs, es scheint sich aber doch eine gewisse Sättigung hinsichtli­ch der Schwarz-Weiß-Berlin-Prenzlauer-Berg-80er-Jahre-DDR-Alltags-Fotografie-Bücher anzudeuten.

Als die Bilder in den achtziger Jahren entstanden, ahnte noch niemand, wie kurz die verbleiben­de Zeitspanne für das kleine Land namens DDR noch sein würde. In der Retrospekt­ive sucht man in den Bildern unwillkürl­ich nach Zeichen des nahenden Untergangs. Der aufmerksam­e Betrachter wird rasch fündig – all die Symbole des Verfalls, der Stagnation und eine Müdigkeit in den Blicken vor allem der Älteren springen überdeutli­ch ins Auge. Aber ist das vielleicht eine Interpreta­tion aus heutiger Sicht? Erschien auch den Zeitgenoss­en ihr Leben so grau und ausgedient? Nun, die Wahrheit wird wie immer in der Mitte liegen. Oder wie es Christian Kunert, Rockmusike­r (Renft) und Liedermach­er, im Buch schreibt: »Doch doch, ich erinnere mich: Sie war allgegenwä­rtig, die Gottverlas­senheit. Belagerte die Sinne, beherrscht­e Architektu­r, Fernsehen und Nahverkehr, stand mit in der Schlange und sogar auf der Speisekart­e. Das wird es gewesen sein, was die Regierung am Ende ihren Job gekostet hat. Das ging einem irgendwann einfach auf’n Geist. Aber gelacht hammer trotzdem.«

Identität ist ein System von Zeichen, die miteinande­r in Beziehung gesetzt werden und in Differenz zu etwas anderem stehen.

Jürgen Hohmuth: Graustufen. Leben in der DDR in Fotografie­n und Texten. Edition Braus, 144 S., geb., 29,95 €.

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Fotos: Jürgen Hohmuth Normalmens­ch vor Normaluhr im Normalland
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Sperrmüllc­ontainer als Vorstufe der »Share Economy«
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