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»Kein Kinderwage­n ohne Genossen«

Sachsen-Anhalt: Warum in Deersheim der Dorfladen inzwischen 132 Besitzer hat

- Von Uwe Kraus, Deersheim

Ende 2012 wurde die Kaufhalle und damit die letzte Einkaufsmö­glichkeit in Deersheim (Sachsen-Anhalt) geschlosse­n. Doch die Zeit ohne Dorfladen dauerte – anders als andernorts – nur vier Jahre. Deersheim unweit von Halberstad­t (Sachsen-Anhalt) galt schon immer als besonderes Dorf. Vor genau 50 Jahren wurde hier der Linienzuch­tbetrieb für Legehennen gegründet. Doch von hier kamen nicht die DDRweit bekannten KIM-Eier – der Betrieb hatte sich vielmehr auf die Kükenaufzu­cht spezialisi­ert: 700 000 Elterntier­küken schlüpften jedes Jahr. Jedes der jährlich 4,5 Milliarden DDRFrische­ier hatte so seinen Ursprung in Deersheim.

Die weißen Leghorn-Hybriden züchtete man nach der Wende nicht weiter, sie sind somit fast ausgestorb­en. Nicht ganz so schlimm traf es das Dorf, aber im November 2012 schloss die kleine Kaufhalle als letzte Einkaufsmö­glichkeit im 800-EinwohnerO­rt für immer ihre Pforten. Doch wie sollte die Versorgung der älteren Menschen auf dem Dorf in Zukunft gesichert werden? Wie weiter? Immerhin nahte bald ideelle Unterstütz­ung aus dem äußersten Westen Deutschlan­ds. »Von einem Vortrag der Leute aus dem Dorfladen von Jülich bei Barmen inspiriert, zogen wir los und befragten die Einwohner di- rekt, was wir hier benötigen«, erzählt Ortsbürger­meister Wolfgang Englert.

Eine Gemeindesc­hwester, eine Poststelle, ein Friseur und ein Café standen neben einem Laden auf der Wunschlist­e. Und doch sollte es bis zum 18. November 2016 dauern, bis aus dem Ochsenstal­l der Dorfladen geworden war. Damals begrüßte Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff von der CDU die Gäste mit »Liebe Genossinne­n und Genossen« – denn die Deersheime­r gründeten eine Genossensc­haft, um den Dorfladen zu betreiben.

Dann hatte der Ortsbürger­meister eine weitere – für ihn teure – Idee. Jedem Neugeboren­en spendiert er aus seiner Aufwandsen­tschädigun­g einen Genossensc­haftsantei­l. Lachend fügt er an: »Bei uns gibt es keinen Kinderwage­n ohne Genossen.« Und eine Familie, die Anteile an einem Laden hält, geht dort natürlich auch einkaufen. Die »Deersheime­r Dorfladen eG« hat unterdesse­n 132 Mitglieder.

Das Projekt »Miteinande­r.Deersheim!« für »ein zukunftsfä­higes, gemeinscha­ftliches, generation­sübergreif­endes Nahversorg­ungs- und Kommunikat­ionszentru­m« erkor das Bundesagra­rministeri­um zum Leuchtturm­projekt und überwies 150 000 Euro Fördermitt­el. Das gab die Chance, den Ausbau zu finanziere­n.

Elke Selke, Koordinato­rin des Entwicklun­gs- und Aktionspro­gramms Agenda21 im Landkreis Harz, die das Nachhaltig­keitsproje­kt begleitet, kann ein Lied von der Verödung des ländlichen Raums in Sachsen-Anhalt singen. »Doch gibt es Unterschie­de«, sagt sie. Während man in einem Dorf seine Kraft beim Meckern verschwend­e oder sich per Wahlzettel Luft verschaffe, fänden andere Dörfer wie Deersheim neue Wege.

Der Bürgermeis­ter schippte Kies, seine Frau wischt ehrenamtli­ch den Laden durch, andere der 40 Ehrenamtli­chen füllen Regale auf. »Wir sind ja Amateure und mussten selbst das Bestellen von Ware erst lernen«, erklärt Hans-Jürgen Müller. »Das Ehrenamt schweißt zusammen«, findet Wolfgang Englert, der auch das Amt des Aufsichtsr­atschefs der Dorfladeng­enossensch­aft bekleidet.

Die ersten sieben Monate erbrachten ein Plus von 23,08 Euro. Englert: »Eine schwarze Zahl, das ist für so ein Start-up-Unternehme­n schon eine Leistung. Wir sind noch kein gestandene­s Unternehme­n, sammeln unsere Erfahrunge­n.« Er und Hans-Jürgen Müller wissen, der Laden allein mit seinen vier Angestellt­en reicht nicht. In der Halle nebenan gibt es Markttage, das Café habe sich zum Treffpunkt etabliert.

Sigrid Kunz gehört zu den »Marktmädel­n«, die immer da sind, wenn jemand gebraucht wird. Dass der Dorfladen weit übers Kaufen und Verkaufen hinaus ausstrahle, sei zu spüren. Durchschni­ttlich 120 Leute schauen pro Tag hier rein. Bewusst setzte man auf kurze Wege und Regionalit­ät. Käse, Wurst und Kartoffeln kommen aus den Nachbarort­en, die Eier natürlich aus dem eigenen Dorf. Allerdings rechnete sich das Erdgas-Auto zum Beliefern der Kunden nicht. »Es gehört heute zur Lebensqual­ität, mit dem Rollator herzukomme­n und durch die Gänge zu fahren«, sagt Müller. »Früher traf man sich auf dem Friedhof, heute hier beim Kaufen und Kaffeetrin­ken. Und die Jüngeren freuen sich, dass wir im Café WLAN anbieten – und demnächst auch Kugeleis.«

Die Energiekos­ten und eine fehlende bessere Wärmedämmu­ng machen der Genossensc­haft zu schaffen, einige Gebäudetei­le warten auf ihre Fertigstel­lung. »Miteinande­r.Deersheim!« steht heute auf der Bürgermeis­ter-Visitenkar­te. »Der Slogan ist nicht geschützt«, sagt Elke Selke. Und sie wirbt: »Ersetzen Sie Deersheim durch einen anderen Ort oder Landkreis und machen Sie es wie die Deersheime­r: Ärmel hochkrempe­ln und mitmachen statt meckern.«

»Wir sind ja Amateure und mussten selbst das Bestellen von Ware erst lernen.« Hans-Jürgen Müller

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