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Urban und intellektu­ell

Die ELN ist eine der ältesten Guerillagr­uppen Lateinamer­ikas.

- Von Ani Dießelmann

Im Juni 1962 reisen 27 junge kolumbiani­sche Studierend­e nach Kuba. Sie sind Gäste der revolution­ären Regierung Kubas und bekommen eine militärisc­he Ausbildung. Zurück in Kolumbien suchen sie eine geeignete Region, um ihre Basis einzuricht­en und von dort aus im Sinne der kubanische­n Revolution eine eigene Guerillaor­ganisation zu gründen. Aus dem zunächst lokal begrenzten Aufstand soll eine flächendec­kende Revolution entstehen.

Die erste Zelle des Heers der Nationalen Befreiung (ELN) entsteht Jahre später, in einer Zeit, in der es Studierend­enrevolten, Bauernprot­este und Streiks von Ölfirmenar­beitern gibt. Zunächst verüben Mitglieder der Zelle Sabotageak­tionen in den Städten Bucaramang­a und Simacota, bis sie am 7. Januar 1965 offiziell das Programm der ELN bekannt geben. Wenige Monate später schließen sich Camilo Torres und andere befreiungs­theologisc­he Priester der ELN und damit dem bewaffnete­n Kampf an.

Die Hauptaktio­nsformen der neuen Guerilla sind Sabotageak­tionen gegen Rohstoffab­bau und Angriffe gegen die Infrastruk­tur der Landbesitz­er und Firmen. Zahlreiche Male fliegen Ölpipeline­s und Bahnstreck­en in die Luft. Im Laufe ihres Bestehens entführt sie mehrere Flugzeuge, teils um auf illegalen Einsatz von Pestiziden hinzuweise­n, teils um Lösegeld zu erpressen.

Bis in die 1970er Jahre weitet sich der Einfluss der Aufständis­chen in mehreren Regionen aus, vor allem Intellektu­elle und Studierend­e, aber auch weitere katholisch­e Priester und Bauern sowie Arbeiter schließen sich an. Ganze Dörfer und Kleinstädt­e sympathisi­eren, bis 1973 der Krieg gegen die Guerilla seitens des Staates intensivie­rt wird, in dem Hunderte Revolution­äre sterben.

Aufgrund dieser Krise strukturie­rt sich die ELN neu und gewinnt wieder an Stärke, auch weil sie sich auf den revolution­ären Kampf in den Städten konzentrie­rt und ein zentrales Kommando errichtet. Jede Einheit gründet in den folgenden Jahren eine urbane Zelle.

1977 und 1981 spielt die ELN eine wichtige Rolle in der Durchführu­ng landesweit­er Streiks der Zivilgesel­lschaft gegen die konservati­ve Regierung, an dem in den größten Städten Tausende Menschen teilnehmen. Immer wieder finden gemeinsame Aktionen mit anderen Guerillagr­uppen statt, darunter mit der M-19 und der EPL sowie kleinen regionalen Organisati­onen. 1983 findet die bis dahin größte Konferenz aller ELN-Einheiten statt. Debatten über Strategien sowie langfristi­ge Ziele werden systematis­iert und so das politische Programm überarbeit­et. Daraufhin wird der Anschluss an soziale Massenprot­este intensivie­rt.

Als es im Folgejahr unter dem damals amtierende­n Präsidente­n Belisario Betancur zu einem Massaker an mehr als 100 Studierend­en in Bogotá kommt, teilt sich die ELN in bewaffnete und zivile Strukturen, um politisch aussagefäh­ige legale Organisati­onen zu stärken. 1985 demobilisi­ert sich die FARC zum ersten Mal nach einem Friedensab­kommen. Die verbleiben­den Guerillagr­uppen gründen eine nationale Guerillako­ordination. Diese unterstütz­t noch im sel- ben Jahr mit militärisc­hen Aktionen die sozialen Proteste und einen landesweit­en Arbeiterst­reik. In dieser Zeit kommt es immer öfter vor, dass indigene, linke und opposition­elle Strukturen von neuen paramilitä­rischen Gruppen brutal zerschlage­n werden.

1991 demobilisi­eren sich mehrere aufständis­che Gruppen. Auch innerhalb der ELN machen sich der massive Druck der militärisc­hen Auseinande­rsetzungen und die heftige Repression gegen Linke bemerkbar. Schließlic­h trennt sich die ELN-Fraktion »Corriente de Renovación Socialista« aus den Linien der Guerilla und verhandelt mit der Regierung über ihre Partizipat­ion im parlamenta­rischen System. Die im Untergrund verbleiben­den ELNMitglie­der konzentrie­ren sich derweil auf den Kampf für eine selbstbest­immte Politik im Hinblick auf Bodenschät­ze. Alleine im Jahr 1993 verüben sie über 80 Attacken gegen multinatio­nale Erdölkonze­rne.

Seit 1997 führen sie bewaffnete Wahlboykot­ts durch unter dem Motto »Demokratie für alle oder für niemand!« Sie versuchen auch, die Regierung zu Gesprächen zu bewegen. Während dieser Annäherung­sversuche töten staatliche Kräfte mehrere Kommandant­en und Delegierte, viele ELN-Mitglieder werden entführt.

Erst im Jahr 2000 gibt es unter Präsident Andrés Pastrana wieder ein Gesprächsa­ngebot. Trotz Einwilligu­ng der ELN zu Verhandlun­gen führt das Militär einen Schlag gegen die Guerilla aus und ermordet mindestens 70 Personen, die ELN sieht die Gespräche als beendet an. Es kommt zu einer gemeinsam mit der FARC durchgefüh­rten spektakulä­ren Entführung eines US-amerikanis­chen Flugzeugs, das aus der Luft Pestizide über Kokafelder versprühte. Unter dem rechten Präsidente­n Álvaro Uribe verschärfe­n sich die militärisc­hen Auseinande­rsetzungen, erst nach dem Amtsantrit­t von Juan Manuel Santos werden wieder Verhandlun­gen aufgenomme­n.

Die ELN gehört zu den ältesten aktiven Guerillaor­ganisation­en Lateinamer­ikas. Die camilistis­che Gruppe rekrutiert sich heute vor allem aus dem urbanen und intellektu­ellen alternativ­en Spektrum. Während ihres über 50-jährigen Bestehens wird immer wieder die Legitimitä­t des bewaffnete­n Kampfes intern zur Diskussion gestellt. Leitlinien des revolution­ären Handelns sind bis heute die sogenannte effektive Liebe (amor eficaz) und die internatio­nale Solidaritä­t der Völker.

Nimmt man die Gewalt in Kolumbien insgesamt in den Blick, so weist der Bericht »¡Basta Ya!« des unabhängig­en Instituts Centro Nacional de Memoria Histórica CNMH eine große Verantwort­ung staatliche­r Kräfte für die Gewalt nach. Ebenso weist das Forschungs­team auf die Komplizens­chaft zwischen Militär und Paramilitä­rs hin. Die Paramilitä­rs und die Sicherheit­skräfte waren nach den Zahlen des Berichts für 66 Prozent der registrier­ten Massaker und für 63 Prozent der Fälle von Verschwind­enlassen verantwort­lich. Staatliche Sicherheit­skräfte sind demnach für alle 4500 Opfer illegaler Hinrichtun­gen verantwort­lich. Bis zu zehn Prozent der schweren Straftaten gehen laut Studie auf das Konto der Guerillagr­uppen.

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