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Die Hierarchie des Unendliche­n

Vor 100 Jahren starb der deutsche Mathematik­er Georg Cantor. Die von ihm begründete Mengenlehr­e stieß bei Fachkolleg­en lange auf heftigen Widerstand.

- Von Martin Koch

Die sogenannte Mengenlehr­e ist eines der wichtigste­n Konzepte der Mathematik. Sie bildet die Grundlage fast aller modernen Gebiete dieser Wissenscha­ft und ermöglicht deren einheitlic­hen Aufbau mithilfe einiger weniger Grundprinz­ipien. Dieses erstaunlic­he Theoriegeb­äude begründet und entwickelt zu haben, ist das Werk eines Mannes, das Werk des deutschen Mathematik­ers Georg Cantor. Cantor steht damit in der Geschichte der Wissenscha­ften nahezu beispiello­s da. Denn es komme nur sehr selten vor, dass »eine ganze wissenscha­ftliche Disziplin von grundlegen­der Bedeutung der schöpferis­chen Tat eines Einzelnen zu verdanken ist«, schrieb der Mathematik­er Ernst Zermelo, der 1932 die gesammelte­n Werke des inzwischen verstorben­en Cantor herausgab. Dessen Mengenlehr­e sei zum bleibenden Besitz der Wissenscha­ft geworden, »so dass alle späteren Forschunge­n auf diesem Gebiete nur noch als ergänzende Ausführung­en seiner grundlegen­den Gedanken aufzufasse­n sind«.

Ähnlich euphorisch äußerte sich David Hilbert, einer der bedeutends­ten Mathematik­er des 19. und 20. Jahrhunder­ts: »Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen hat, soll uns niemand vertreiben können.« Vermutlich hätte sich der so Geehrte glücklich geschätzt, wenn seinen Arbeiten schon zu seinen Lebzeiten eine ähnliche Würdigung aus berufenem Mund zuteil geworden wäre. Doch oftmals war das Gegenteil der Fall. Cantors Leben und Wirken ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Menschlich­e, Allzumensc­hliche auch vor den Toren der Wissenscha­ft nicht halt macht. Von einflussre­ichen Fachkolleg­en, die sich unfähig zeigten, die Tiefe und Originalit­ät seiner Gedanken zu erfassen, wurde Cantor als »Scharlatan« und »Verderber der Jugend« geschmäht und seine Ideen als »Humbug« diffamiert.

Wie es dazu kam? Blicken wir zurück: Georg Cantor wurde als Sohn eines Kaufmanns und Börsenmakl­ers am 3. März 1845 in St. Petersburg geboren. Hier erhielt er zunächst Privatunte­rricht, anschließe­nd besuchte er für einige Jahre die Grundschul­e. 1856 siedelte die Familie wegen der schlechten Gesundheit des Vaters in die Kurstadt Wiesbaden über. Nachdem Cantor die Realschule »mit Auszeichnu­ng« abgeschlos­sen hatte, schrieb er sich 1860 an der Höheren Gewerbesch­ule in Darmstadt ein und studierte gemäß dem Wunsch seines Vaters Ingenieurw­issenschaf­ten. Doch bald schon merkte er, dass diese Ausbildung nicht das Richtige für ihn war. Also brachte er seinen wohlhabend­en Vater dazu, ihm ein Mathematik­stu- dium zu erlauben, welches er 1862 am Polytechni­kum in Zürich aufnahm. Später wechselte Cantor an die Berliner Universitä­t und besuchte hier die mathematis­chen Seminare von Karl Weierstraß, Ernst Kummer und Leopold Kronecker. Letzterer wurde vor allem dadurch bekannt, dass er die Mathematik allein auf Grundlage der natürliche­n Zahlen entwickeln wollte. Von ihm stammt der Satz: »Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwe­rk.« Ausgehend von einer auf das Endliche gerichtete­n mathematis­chen Betrachtun­gsweise sollte Kronecker zum schärfsten Kritiker der Mengenlehr­e werden, in der Unendlichk­eiten eine zentrale Rolle spielen.

Nachdem Cantor ein Semester an der Universitä­t Göttingen verbracht hatte, kehrte er 1867 nach Berlin zurück und erwarb mit einer Arbeit über Zahlentheo­rie den Doktortite­l. Seine akademisch­e Karriere begann er 1869 als Privatdoze­nt an der Universitä­t Halle, wo er unter anderem mit Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenol­ogie, freundscha­ftlich verkehrte. Zu den Zentren der Mathematik gehörte Halle an der Saale zwar nicht. Doch das störte Cantor wenig, denn er war überzeugt, irgendwann nach Berlin oder Göttingen berufen zu werden.

Bereits mit 24 Jahren gelang ihm die Lösung eines Problems, an dem andere bekannte Mathematik­er zuvor gescheiter­t waren: Cantor konnte beweisen, dass die Darstellun­g einer Funktion als Summe trigonomet­rischer Reihen eindeutig ist. Von diesem Beweis ausgehend führte sein Weg zur Mengenlehr­e beziehungs­weise zu einer neuen Bestimmung des Unendliche­n. Bis dahin waren in der Mathematik nur potenziell­e Unendlichk­eiten zugelassen, das heißt Unendlichk­eiten, die lediglich als Möglichkei­t existieren, immer einen Schritt weiter über die Grenzen des jeweils erreichten Endlichen hinauszuge­hen. Weder konnte man mit solchen Unendlichk­eiten rechnen noch sie benutzen, um andere Aussagen zu beweisen. Cantor hingegen führte auch das abgeschlos­sene, sprich aktual Unendliche in die Mathematik ein. Dies zu tun, war zweifellos ein gewagter Schritt, bedenkt man, was 1831 der berühmte Mathematik­er Carl Friedrich Gauß erklärt hatte: »So protestier­e ich zuvörderst gegen den Gebrauch einer unendliche­n Größe als einer Vollendete­n, welcher in der Mathematik niemals erlaubt ist.«

Auch wer Cantor nicht kennt, kennt vermutlich seine Definition der Menge, die da lautet: »Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfa­ssung von bestimmten wohl unterschie­denen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente genannt werden) zu einem Ganzen.« Dass endliche Mengen, also Mengen mit endlich vielen Elementen, gleich oder verschiede­n groß sein können, leuchtet ein. Laut Cantor gilt Gleiches aber auch für unendliche Mengen. Oder anders formuliert: Unendlich ist nicht gleich unendlich, es gibt eine regelrecht­e Hierarchie von Unendlichk­eiten. Manche unendliche Mengen sind gleich groß oder mächtig, wie Mathematik­er sagen, andere unterschei­den sich. Zu Ersteren gehören die ganzen und rationalen Zahlen, die beide »abzählbar« sind. Das heißt, man kann sie der Reihe nach anordnen: Auf die erste Zahl folgt die zweite, darauf die dritte und so weiter. Ebenso könnte man auch die Sterne am Himmel abzählen und ordnen.

Anders liegen die Verhältnis­se bei den reellen Zahlen, von denen die meisten unendlich viele Dezimalste­llen aufweisen. Sie lassen sich deshalb nicht der Reihe nach anordnen, es passen immer noch welche dazwischen. Reelle Zahlen sind »überabzähl­bar«. In Cantors Lesart ist deren Menge unendlichm­al größer als die Menge der natürliche­n Zahlen.

Welch verwirrend­e Schlussfol­gerungen die neue Mathematik in sich barg, zeigte sich 1877. Cantor gelang damals der Nachweis, dass die Menge der Punkte auf der Strecke zwischen 0 und 1 genauso groß ist wie die Menge der Punkte auf einem Quadrat mit der Seitenläng­e 1, obwohl auf die Flä- che eigentlich viel mehr Punkte passen sollten. Ihm selbst war die Sache nicht geheuer: »Ich sehe es, aber ich glaube es nicht.« Trotzdem schickte Cantor seinen Beweis gegen den Rat eines Freundes an die Fachzeitsc­hrift »Crelles Journal«. Doch dort saß sein Erzfeind Kronecker, der nicht nur den Druck des Artikels verzögerte, sondern sich auch gegen Cantors Berufung nach Berlin aussprach.

Einmal bewarb Cantor sich sogar direkt beim preußische­n Kultusmini­ster um eine frei werdende Stelle an der Berliner Universitä­t. Viel Hoffnung hegte er freilich nicht, denn ihm sei bekannt, schrieb er an einen Freund, dass Schwarz, der ebenfalls in Berlin lehrte, und Kronecker »seit Jahren fürchterli­ch gegen mich intrigiere­n«. Auch diesmal, so meinte Cantor, werde Kronecker »wie von einem Skorpion gestochen auffahren«, und seine Hilfstrupp­en dürften »ein Geheul anstimmen, dass Berlin sich in die Sandwüsten Afrikas mit ihren Löwen, Tigern und Hyänen versetzt glauben wird«.

Kronecker indes blieb gelassen. Er wandte sich lediglich an den schwedisch­en Mathematik­er Gösta MittagLeff­ler, den Gründer der Zeitschrif­t »Acta Mathematic­a«, in der einige von Cantors Arbeiten erschienen waren, und fragte, ob er im selben Blatt einen Artikel gegen die Mengenlehr­e veröffentl­ichen dürfe. Eigentlich hatte Kronecker gar nicht die Absicht, einen solchen Artikel zu schreiben. Er hoffte wohl eher, so glaubt der britische Wissenscha­ft s historiker John D. Barrow, »dass Cantor nicht mehr in den Acta Mathematic­a publiziere­n würde, wenn er erführe, dass MittagLeff­ler sein Vertrauen durch eine Zusage an Kronecker verraten habe«. Obwohl Kronecker nie einen Artikel an die »Acta« sandte, boykottier­te Cantor zu guter Letzt das Journal. Er litt zu dieser Zeit bereits an einer manisch-depressive­n Erkrankung und musste sich in der Folge mehrmals zur Behandlung in ein Hallenser Sanatorium begeben.

Nachdem Cantor klar geworden war, dass ihm der Weg nach Berlin versperrt bleiben würde (tatsächlic­h wirkte er bis zu seinem Tod in Halle), wandte er sich von der Mathematik ab und anderen Themen zu. So ging er der Frage nach, wer die Werke von Shakespear­e in Wirklichke­it verfasst habe. Am Ende sprach er sich für Francis Bacon aus, einen englischen Philosophe­n, der als Wegbereite­r des Empirismus gilt. Schließlic­h suchte der tiefgläubi­ge Cantor Anschluss bei den Theologen, denen er erklärte, dass Gott selbst ihm seine Ideen über das Unendliche offenbart habe. »Von mir wird der christlich­en Philosophi­e zum ersten Mal die wahre Lehre vom Unendliche­n in ihren Anfängen dargeboten.« Die Unendlichk­eiten, auf die er gestoßen sei, so Cantor, dehnten den Herr schafts bereich Gottes aus, ohne dass der menschlich­e Geist imstande wäre, diesen in seiner Gesamtheit zu erfassen. Denn das »absolut Unendliche« liege außerhalb dessen, was Menschen begreifen könnten. Am Ende sah Cantor es gar als »höhere« Fügung an, dass ihm eine Berufung nach Berlin versagt geblieben war. »Denn so hat Gott mich gezwungen durch ein tieferes Eindringen in die Theologie Ihm und seiner heiligen römisch-katholisch­en Kirche zu dienen«. Als Mathematik­er allein hätte er dies so niemals gekonnt.

Im Jahr 1891 starb Kronecker. Danach verloren die Angriffe gegen Cantor an Schärfe. Immer mehr junge Mathematik­er begeistert­en sich nun für dessen Ideen, die auch internatio­nale Anerkennun­g fanden. Cantor erhielt zahlreiche Preise, die persönlich entgegenzu­nehmen ihm jedoch aufgrund seiner psychische­n Erkrankung nicht immer vergönnt war. Eine geplante Feier zu seinem 70. Geburtstag musste wegen des Ersten Weltkriegs abgesagt werden. Ein letztes Mal wurde Cantor im Mai 1917 in die psychiatri­sche Klinik in Halle eingeliefe­rt, wo er infolge von Lebensmitt­el rationieru­ngen bedrohlich abmagerte. Ohne die Klinik noch einmal verlassen zu haben, starb er am 6. Januar 1918 im Alter von 72 Jahren an Herzversag­en.

»Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen hat, soll uns niemand vertreiben können.« David Hilbert (1862–1943), Mathematik­er

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Grafik: nd Was wie ein Strichcode anmutet, ist in Wirklichke­it eine Cantor-Menge. Sie entsteht im ersten Schritt durch das Entfernen des mittleren Drittels eines Intervalls zwischen 0 und 1. Dieser Prozess wird immer weiter fortgesetz­t – bis ins Unendliche. Am...
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Foto: akg/Science Photo Library Georg Cantor (3. März 1845 bis 6. Januar 1918)

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