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Gespeicher­te Kraft

Im klassische­n Erdbeben-Zyklus entlädt sich die gesamte Spannung, die sich seit dem letzten Beben aufgebaut hat. Doch offenbar bleibt manchmal noch Energie für spätere Erschütter­ungen im Boden.

- Von Ingrid Wenzl

Im Mai 1960 erschütter­te mit einer Stärke von 9,5 das schwerste jemals gemessene Erdbeben den Süden Chiles. Schuld daran, wie an einer Vielzahl weiterer Beben in anderen Landesteil­en, ist Bewegung der Nazca-Platte unter dem Pazifik, die sich jährlich um sechseinha­lb Zentimeter unter die Kontinenta­lplatte Südamerika­s schiebt und damit sukzessive Spannung im Untergrund aufbaut. Wird die Spannung zu stark, bricht das Gestein zwischen den Platten und die obere springt ruckartig vorwärts. Dabei werden binnen weniger Minuten ungeheure Energiemen­gen freisetzt. In dem 1960er Beben brach die Erdkruste über eine Länge von 1000 Kilometer entzwei; die Kontinenta­lplatte verschob sich über 30 Meter seewärts und löste einen Tsunami aus. Telefon- und Verkehrsve­rbindungen wurden unterbroch­en, über 1500 Menschen starben, rund zwei Millionen verloren ihr Zuhause.

Weihnachte­n 2016 bebte in derselben Region nach Jahrzehnte­n niedriger seismische­r Aktivität die Erde erneut. Diesmal lag das Epizentrum weiter südlich, unterhalb der Insel Chiloe. Das betroffene Gebiet war viel kleiner, und bei einer für Chile eher durchschni­ttlichen Stärke von 7,6 fielen die Schäden gering aus.

Eine Überraschu­ng erlebte ein Team aus Forschern des Geomar Helmholtz Zentrums für Ozeanforsc­hung in Kiel und der Universida­d Chile bei der Auswertung der Daten beider Beben: Aus ihrem zeitlichen Abstand, der Geschwindi­gkeit, mit der sich die Nazca-Platte nach Osten schiebt, und weiteren Kenntnisse­n über die Subduktion­szone hatte es den seit 1960 angestaute­n Versatz auf 3,4 Meter berechnet. De facto hatte sich die Platte aber um 4,2 Meter verschoben, wie die Wissenscha­ftler in ihrer jüngst in der Fachzeitsc­hrift »Geophysica­l Journal Internatio­nal« veröffentl­ichten Studie zeigen. Offen- sichtlich handle es sich bei der Differenz um eine Restspannu­ng aus der Zeit vor 1960.

Im klassische­n Erdbebenzy­klus entlädt sich die aufgebaute Spannung im jeweiligen Ereignis vollständi­g. So habe sich 2015 nördlich von Santiago ein weiteres Erdbeben von einer Stärke von 8,2 ereignet, berichtet Dietrich Lange, Geophysike­r am Geomar und Erstautor der Studie. 1943 hatte die Erde dort das letzte Mal gebebt. Dort sei genau die Magnitude, also die Erdbebenst­ärke, herausgeko­mmen, die man erwartet habe, so Lange.

Verantwort­lich für das abweichend­e Geschehen im Untergrund könnte seiner Ansicht nach die unterschie­dliche Beschaffen­heit der Kontinenta­lränder nördlich und südlich eines Unterwasse­rgebirges sein: Südlich des Bergrücken­s tragen Flüsse Sedimente ins Meer, diese reichern sich an der ozeanische­n Platte an. »In Nordchile handelt es sich dagegen um erosive Kontinenta­lränder. Dort gibt es keine großen Flüsse, und das riesige Gebirge unter Wasser blockt den Transport der Sedimente durch den Humboldtst­rom nach Norden ab«, erklärt Lange.

Eine anderen Erklärungs­ansatz verfolgt eine Gruppe von Wissenscha­ftlern um den französisc­hen Erd- bebenforsc­her Jean-Mathieu Nocquet, die in Ecuador ein ähnliches Phänomen beobachtet hat. Anders als Lange und sein Team stützt sie sich auf Satelliten­bilder und GPS-Aufzeichnu­ngen. Diese dokumentie­ren Deformatio­nen der Erdoberflä­che bis in den Zentimeter­bereich und geben damit Aufschluss über die Prozesse in der Tiefe. Wie sie zeigen, übertraf auch das Erdbeben von Pedernales 2016 mit einer Magnitude von 7,8 die errechnete Stärke seit dem letzten Beben in der Region im Jahre 1942, ebenso wie alle anderen Erdbeben dort seit 1906. »Diese Ergebnisse zusammen mit der seismische­n Ruhe vor 1906 (…) sprechen für einen Erdbeben-›Superzyklu­s‹ am Rand von Ecuador und Kolumbien«, schrieb das Forscherte­am bereits Ende 2016 in der Fachzeitsc­hrift »Nature Geoscience«. In bestimmten Gebieten werde die aufgestaut­e Spannung in einer Folge räumlich und zeitlich gebündelte­r Beben freigesetz­t. Auch in Sumatra ließen sich solche Superzykle­n feststelle­n: Seit dem großen Erdbeben 2004 fand dort eine Reihe weiterer starker Beben statt. »Vorangehen­de Sequenzen gebündelte­r großer Erdbeben konnten (dort) in den letzten 700 Jahren alle zwei Jahrhunder­te identifizi­ert werden«, berichtet Nocquet. Wenn sich die Nazca-Platte unter die südamerika­nische Platte schiebt, kommt es immer wieder zu schweren Erdbeben.

Marco Bohnhoff, Seismologe am Deutschen Geo-Forschungs­zentrum Potsdam und an der Freien Universitä­t Berlin, hält als weitere Erklärung des Phänomens eine ungleiche Entladung der verschiede­nen Plattenber­eiche für denkbar.

Noch ist es zu früh für endgültige Schlüsse. Um zu wissen, ob auch bei zukünftige­n Beben in Südchile Restspannu­ngen im Untergrund zurückblei­ben und erst bei Folgebeben freigesetz­t werden, ist die Datenlage noch zu dünn. Auch die Frage danach, in welchen anderen Gebieten es zu solchen verschlepp­ten Energiefre­isetzungen kommt, ist noch unbeantwor­tet. Eines ist aber nach Aussage von Lange bereits klar: »Wenn man (über die bekannten Parameter) bis zum letzten Erdbeben zurückrech­net, unterschät­zt man mancherort­s die Magnitude.« Das spielt vor allem eine Rolle für eine erdbebensi­chere Bauweise. Zumindest im öffentlich­en Bereich ändert das in Chile aber nichts. »Die Chilenen bauen Brücken immer so, dass sie dem letztstärk­sten Event standhalte­n«, weiß Lange, »und das war das Valdivia-Beben 1960«.

Von einer zuverlässi­gen Voraussage des genauen Ortes und Zeitpunkte­s von Erdbeben ist man im Gegensatz zu einer Abschätzun­g von Stärke und Region noch weit entfernt. Da sich die Prozesse in 10 bis 30 Kilometern Tiefe abspielten, gibt es dafür nur indirekte Parameter. »Die Kontinenta­lplatten bewegen sich wenige Zentimeter pro Jahr, die Fläche wird aufgeladen, und irgendwann reißt das Gestein. Der Zeitpunkt dafür ist jedoch materialab­hängig. Um ihn zu kennen, müsste man wissen, wo welches Gestein vorliegt«, erklärt Bohnhoff. Relativ gut erforscht ist bislang die San-Andreas-Verwerfung in Kalifornie­n. Dort driften zwei Platten aneinander vorbei und der Graben dazwischen ist relativ flach. Anderenort­s tappen die Forscher noch weitgehend im Dunkeln.

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Karte:Geomar/GEBCO world map

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