Die wundersame Kraft der Bäume
Im Schwarzwald hat sich eine alte Buche eine Christusfigur einverleibt.
Wer sich in diesen Tagen hoch hinauf in Schwarzwälder Regionen begibt, muss viel Puste mitbringen und durch einen halben Meter hohen Schnee stapfen. Mitten im Simonswälder Tal nordöstlich von Freiburg wurden nicht nur lokale Fernsehserien in alten Schwarzwaldhäusern gedreht – hier hat auch eine mächtige Weidbuche ein Baumwunder vollbracht. Seit vielen Jahrzehnten schon hat die Buche in rund 1000 Meter Höhe mitten im Wald eine Christusfigur aus Sandstein auf wundersame Weise umschlungen. Der »Balzer Herrgott« gilt vielen als einzigartig.
Baumriesen können im Lauf der Jahrhunderte nahezu alles umwachsen, was sich ihnen in den Weg stellt. »Doch so ein besonderer Baum ist mir an keinem anderen Ort bekannt«, schwärmt Olaf Willenbrock aus Göttingen von dem Schwarzwälder Baumwunder »Balzer Herrgott«. Die Kalksandsteinfigur eines Christus am Stamm einer rund 300 Jahre alten Buche stammt vermutlich aus spätgotischer Zeit und wurde von dem Baumriesen so umwachsen, dass inzwischen nur noch der Kopf zu sehen ist.
Der 51-jährige Willenbrock ist Spezialist für Geo-Informationssysteme und fotografiert seit vielen Jahren derlei »Umwallungen«, wie er das Verwachsen der Baumriesen mit Gegenständen bezeichnet. Auf seiner Internetseite hat er einen Fundus an Bildern angelegt, die dokumentieren, wie die mächtigen Bäume sich Dinge geradezu einverleiben.
Zu sehen sind Buchen, die Schilder und Zäune umschlungen haben, oder eine Schwarzwaldtanne mit einer Fahrrad-Felge im Stamm. »Es gibt auch noch weitere eingewachsene Heilige wie etwa ein Marien-Bild im nordrheinwestfälischen Kreis Borken oder das ›Bullauer Bild‹ in Hessen«, erzählt Willenbrock. Der »Balzer Herrgott« zwischen Wildgutach und Gütenbach, rund 25 Kilometer nordöstlich von Freiburg, aber sei einzigartig.
Der »Balzer Herrgott« stand vermutlich ab der Mitte des 19. Jahr- hunderts zunächst in der Nähe der Buche, zwischen 1870 und 1880 soll er dann an der Buche befestigt worden sein. Auf den Schautafeln vor Ort und im Gütenbacher Dorfmuseum ist zu lesen, dass die Figur im Jahr 1927 an den Lenden noch frei war, ehe diese bis 1955 vollständig durch die nachwachsende Rinde überwallt wurden. Vor rund vierzig Jahren dann habe sich die Rinde unterhalb der Brust geschlossen bis ein Schnitzer im Jahr 1986 dann Kopf und Brust wieder freilegte.
Zu jener Zeit befürchtete man, dass die Überwallung weiter voranschreiten würde und schließlich irgendwann die Christusfigur komplett verschlingen würde. In Gütenbach entschloss man sich dann, den Kopf der Sandsteinfigur wieder freizuschneiden und das freigelegte Holz gegen Pilze und Feuchtigkeit zu versiegeln. Doch die Weidbuche übte weiter enormen Druck auf den Kopf des »Balzer Herrgotts« aus, sodass man im Jahr 1995 eine Rille um die Umwallung schnitzte, damit das weitere Wachstum verhindert wird.
»In den meisten Fällen kommen die Bäume recht gut mit derartigen Fremdkörpern zurecht, da sie über einen wirkungsvollen Schutzmechanismus verfügen«, sagt Willenbrock. Die Dimension der Verwachsungen ist recht unterschiedlich: Junge und vi- tale Bäume wachsen relativ schnell in die Breite, sodass schon nach wenigen Jahren deutliche Veränderungen an den betroffenen Stellen zu sehen sind. Im Gegensatz dazu wachsen ältere Bäume nicht mehr so stark, weswegen sich die Verwachsungen kaum vergrößern.
Von Bäumen umschlungene Gegenstände können aber auch gefährlich sein, Willenbrock weiß von einem eingewachsenen Kabel, das noch Strom führte. Der Göttinger will mit seinen Fotos und Ausstellungen deshalb auch zeigen, »wie achtlos mit der Natur insgesamt umgegangen wird«. Viele Besucher seiner Ausstellungen interpretierten die Bilder aber oft ganz anders, hat er erfahren: »Sie sind beeindruckt von der Stärke, der Widerstandskraft und dem Durchhaltevermögen der Bäume.«
Das erste Foto, das Willenbrock von solchen Bäumen gemacht hat, entstand 1989 in Frankreich. »Zu dieser Zeit ahnte ich noch nicht, wie oft ich solche Bäume sehen würde und wie groß meine Sammlung mal werden sollte«, sagt der 51-Jährige. Inzwischen hat er über 500 solcher Bäume fotografiert und dazu mehrere Ausstellungen gezeigt. »Neben den recht häufig zu findenden eingewachsenen Schildern und Zäunen gibt es aber auch besonders kuriose Dinge, die in Bäumen eingewachsen sind«, sagt Willenbrock. Dies seien »Dinge, die man nur selten zu Gesicht bekommt«, wie etwa eingewachsene Hirschgeweihe. So gebe es auch im Museum für Naturkunde in Berlin ein Geweih zu sehen, das in einer Astgabel einer Eiche eingewachsen ist und 1768 erstmals erwähnt wurde.
Der »Balzer Herrgott« besteht aus Kalksandstein und hat laut Willenbrock vermutlich ein Eisenskelett, dass zur Befestigung an seinem ursprünglichen Ort diente. Die Arme und Beine der Figur fehlten bereits, als sie am Baum befestigt wurde. Aus welchem Jahr die Buche stammt, kann nur gemutmaßt werden. Die Schätzungen schwanken zwischen Anfang und Ende des 18. Jahrhunderts.
Bei der Buche des »Balzer Herrgott« handelt es sich vermutlich um eine sogenannte Weidbuche, die einst aus mehreren Einzelstämmen bestand. Die Christusfigur wurde vor rund 100 Jahren wohl zwischen zwei Teilstämmen eingeklemmt, im Laufe der Zeit wuchsen diese zusammen. Dies geht aus einer Studie des Instituts für Ökologie und Naturschutz in Karlsruhe hervor, die von den beiden Autoren Angelika Schwabe und Anselm Kratochwil im Jahr 1987 erstellt wurde.
Demnach entstehen Weidbuchen, wenn die jungen Bäume immer wie- der von Kühen, Ziegen oder Rehen abgefressen werden. Die Buchen entwickeln stetig neue Triebe, sehen zunächst aus wie ein Busch und werden auch Kuhbusch genannt. Erst mit der Zeit, wenn die Tiere mit ihrem Maul nicht mehr die Mitte des Busches erreichen, können einige Triebe in die Höhe wachsen und bilden dann mehrere Teilstämme.
Erreicht der Baum ein Alter von etwa 100 Jahren, beginnen die Teilstämme, zu einem einzigen mächtigen Stamm zusammenzuwachsen. Dabei können spektakuläre Wuchsformen entstehen mit knorrigen Ästen und Hohlräumen, die häufig von Höhlenbrütern genutzt werden, schreiben Angelika Schwabe und Anselm Kratochwil.
Die Herkunft des Namens »Balzer Herrgott« ist nicht eindeutig: manche vermuten, er könnte auf einen einstigen Balzplatz der Auerhähne nahe der Buche zurückgehen. Andere wiederum spekulieren darüber, dass der Name von einem Bauern namens Balthasar stamme. Viele Sagen und Legenden ranken sich um die Figur: Eine davon besagt, Hugenotten hätten sie auf der Flucht aus Frankreich an dem steilen Hang liegen gelassen – oder es waren Royalisten, die während der französischen Revolution aus Frankreich gekommen seien. Andere wiederum erzählen, der »Balzer Herrgott« stamme aus einem Kloster und sei in Kriegszeiten im Wald versteckt worden.
Wahrscheinlicher ist aber die mündliche Überlieferung, die im Gütenbacher Dorfmuseum nachzulesen ist: Danach stammt die Figur von einem Hofkreuz. Der Hof selbst wurde im Februar 1844 durch eine Lawine zerstört, wobei Arme und Beine der Figur abgebrochen sein müssen. Junge Männer hätten den Torso heimlich in den Wald gebracht. Lange habe er in der Nähe der Buche auf dem Waldboden gelegen, bis ihn zwei Gütenbacher Uhrmachergesellen an dem Baum befestigten.
»In den meisten Fällen kommen die Bäume recht gut mit derartigen Fremdkörpern zurecht, da sie über einen wirkungsvollen Schutzmechanismus verfügen.« Olaf Willenbrock