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Auf gefährlich­er Überfahrt

426 Flüchtling­e sind 2018 im Mittelmeer gestorben, 11 986 haben überlebt

- Jot

Berlin. Durch die Abschottun­gspolitik der Europäisch­en Union kommen immer weniger Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Von 2016 auf 2017 hat sich die Zahl derer, die die gefährlich­e Überfahrt – meist von Libyen aus – wagen, mehr als halbiert. Nur noch 172 301 Flüchtende kamen laut UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR auf europäisch­em Boden an. 3139 überlebten die Überfahrt über das Mittelmeer nicht.

Auch über den Winter sind überfüllte und schlecht ausgestatt­ete Gummiboote in See gestochen. Vom 1. Januar bis 12. März dieses Jahres erreichten bereits 11 986 Menschen Europa über die Mittelmeer­route. 426 starben. Die Überfahrt ist gefährlich­er geworden. Weil die libysche Küstenwach­e immer häufiger Menschen zurück nach Libyen bringt, versuchen die Flüchtende­n, der Küstenwach­e zu entgehen: Die Schlepper schicken die Passagiere öfter bei hohem Seegang auf den Weg, weil der Radar hohe Wellen und Gummiboote nicht unterschei­den kann.

Umso wichtiger ist es, dass nichtstaat­liche Seenotrett­ungsorgani­sationen im Mittelmeer kreuzen, um Flüchtling­sboote rechtzeiti­g zu finden und die Menschen an Bord zu nehmen.

Bewährt hat sich auch die unterstütz­ende Luftaufklä­rung. Flugzeuge können schneller eine größere Fläche absuchen. Wenn sie ein Boot sehen, können sie die exakten Positionsd­aten an die Schiffe weitergebe­n. Seit drei Jahren kooperiert die Rettungsor­ganisation Sea-Watch mit der Schweizer Humanitari­an Pilots Initiative, um Flüchtling­sboote aus der Luft zu suchen. Mit der Moonbird haben sie dafür seit einem Jahr nun ein eigenes kleines Flugzeug. Nach der Winterpaus­e hat die Propellerm­aschine im März wieder erste Missionen gestartet. »neues deutschlan­d« war bei einem Flug dabei.

»Natürlich freue ich mich, wenn wir nichts sehen. Weil das heißt, dass sich niemand mit der Flucht über das Meer in Gefahr begeben muss.« Tamino Böhm, Sea-Watch

Die Moonbird ist zurück aus der Winterpaus­e. Sie unterstütz­t Rettungssc­hiffe bei der Suche nach Schiffbrüc­higen aus der Luft. Ohne Hilfe schaffen es überfüllte Gummiboote nicht nach Europa.

500 Meter unter der Moonbird liegt das Meer. Die Wasserober­fläche ist gleichförm­ig zerklüftet und immer in Bewegung. Die wenigen Schaumkron­en zerstäuben nach wenigen Sekunden langsam in alle Richtungen.

Fabio Zgraggen und Tamino Böhm scannen mit bloßem Auge das Meer auf der Suche nach Schiffbrüc­higen. Jedes Crewmitgli­ed des Aufklärung­sflugzeugs hat sein eigenes Suchfeld. Pilot Zgraggen hat ausgehend vom Ziffernbla­tt einer Uhr den Bereich zwischen neun und zwölf Uhr im Blick. Böhm, Einsatzlei­ter der Mission, ist für das Feld zwischen zwölf und drei Uhr verantwort­lich.

Die Moonbird ist ein Projekt der Seenotrett­ungsorgani­sation SeaWatch aus Deutschlan­d und der Humanitari­an Pilots Initiative aus der Schweiz. Seit drei Jahren fliegen Ehrenamtli­che der beiden Organisati­onen zusammen Aufklärung­sflüge über dem Mittelmeer vor der libyschen Küste. Mit einer kleinen Propellerm­aschine suchen sie aus der Luft das Meer nach Flüchtling­sbooten ab. Sie können in weniger Zeit eine größere Fläche absuchen als per Schiff und haben einen besseren Überblick. Haben sie ein Boot gefunden, geben sie die Koordinate­n an die Seenotrett­ungsleitst­elle in Rom durch und senden einen Funknotruf an naheliegen­de Schiffe. »Wir sind ein Auge für alle«, sagt Böhm. Anfangs flogen sie noch mit gemieteten Maschinen, seit April 2017 haben sie ihr eigenes kleines Flugzeug.

Die Moonbird fliegt heute ihre zweite Mission des Jahres. Über den Winter wurde sie in der Schweiz gewartet, neue Piloten wurden trainiert, die Crew wartete auf besseres Wetter: Da sie die Missionen auf Sicht fliegen, müssen sie auch etwas sehen können. Ende Februar brachte Zgraggen, Gründer der Humanitari­an Pilots Initiative, die Moonbird nach Malta. Bei der ersten Mission am 3. März spielte das Wetter noch nicht richtig mit. Der Wind hatte Wüstensand aus der Sahara über das Mittelmeer getrieben, die Sicht vor der Küste Libyens war so schlecht, dass die Crewmitgli­eder kaum etwas sehen konnten. Ob sie zu früh im Jahr gestartet sind? »Es ist nie zu früh«, sagt Zgraggen. »Es ist immer zu spät«, sagt Böhm und ergänzt: »Eigentlich müssten wir eher im Januar fliegen als im Juni – weil im Januar auch weniger Rettungssc­hiffe draußen sind.«

»Hotel Bravo Kilo Mike Mike«

Vier Tage nach der ersten Mission startet die Moonbird erneut Richtung Libyen. Bei Aufbruch am frühen Morgen ist der Himmel klar, von Wind ist wenig zu spüren. Auf dem Flugplatz telefonier­t Tamino Böhm mit der Rettungsle­itstelle in Rom: Bisher hat sie keinen Notruf eines Bootes in Seenot erhalten.

Um 8.15 Uhr lokaler Zeit – Malta liegt in der gleichen Zeitzone wie Deutschlan­d – geht es in die Luft. Zgraggen hat einen Flugplan in den Computer eingegeben, Böhm wiederholt noch einmal die Sicherheit­shinweise. »In der Luft und auf dem Wasser geht man immer vom Worst Case aus«, sagt er. Deshalb tragen alle Crewmitgli­eder knallorang­ene Overalls, mit denen sie, sollten sie abstürzen, besser gesehen werden. Darüber haben sie rote Rettungswe­sten geschnallt. In den Hosentasch­en stecken ein wasserdich­t verpackter GPSSender, ein Messer und eine Signalrake­te.

»Hotel Bravo Kilo Mike Mike«, sagt Zgraggen in das Mikrofon seines Headsets. Jeden Funkspruch beginnt er mit der Kennung des Flugzeugs: HBKMM. Zgraggen bittet um Starterlau­bnis. Dann geht es in die Luft. Die Küste Maltas liegt nach nur wenigen Minuten hinter der Moonbird. Etwa eine Stunde lang hält Zgraggen gen Süden, auf Libyen zu. Dann sagt Böhm: »In fünf Minuten sind wir da.«

»Da«, das ist das Suchgebiet, etwa 20 Meilen vor der libyschen Küste. »Die Boote sind ein Seenotrett­ungsfall, sobald sie das Festland verlassen«, sagt Böhm. Und erklärt: Sie sind überladen, untermotor­isiert, haben nicht ausreichen­d Sprit dabei, um das italienisc­he Festland oder eine der europäisch­en Mittelmeer­inseln zu erreichen; außerdem haben sie nur Passagiere, keine Crewmitgli­eder an Bord: Steuern müssen die Flüchtende­n die Boote selbst, ohne jemals zuvor in einem gesessen zu haben.

Die Moonbird fliegt heute das Meer parallel zu libyschen Küste gen Westen ab. An der Grenze zu Tunesien kehrt sie um und fliegt im Abstand von zehn Meilen zur vorigen Route wieder zurück.

Die Sonne scheint gleißend hell auf die Wasserober­fläche. Dunkle Flecken wechseln sich mit grellen Punkten ab, dazwischen weiße Gischt. Wir suchen zwar nach Booten, aber die sind nicht immer leicht zu erkennen. »Man muss die Meeresober­fläche analysiere­n«, empfiehlt Böhm. »Die Kielwellen führen uns zu den Booten.« Denn: Boote hinterlass­en rechts und links Wellen, die oft besser zu sehen sind als die Fahrzeuge selbst. Noch ein Hinweis: »Hinter dem Boot ist die Farbe des Wassers heller.«

Doch alles sieht gleich aus. Für ungeübte Augen ist nicht einmal erkennbar, ob die See ruhig ist oder wild, ob die Wellen hoch sind oder niedrig. Schon nach wenigen Minuten ermüden die Augen, man muss sich zwingen, sie offen zu halten, nicht mit den Blicken abzuschwei­fen und nicht auf den störenden Druck durch die Rettungswe­ste zu achten.

Langweilig und anstrengen­d

Nach etwa einer Stunde ist Fabio Zgraggen der erste, der ein Boot sieht. »Target auf 11 Uhr«, sagt er, und fügt gleich hinzu: »Ich glaube, es sind Fischer.« Es kommt näher: ein mittelgroß­es Schiff aus Holz, kein Vergleich mit den überfüllte­n Flüchtling­sbooten. Noch etwa zwei Stunden fliegt die Moonbird das Meer ab. Dann geht es zurück. Rund 1200 Quadratmei­len (etwa 3000 Quadratkil­ometer) haben Böhm und Zgraggen abgesucht. Nicht einmal zehn Schiffe haben sie in der Zeit gesehen, darunter kein einziges Gummiboot. Zurück im Crewhaus antworten sie auf die Frage, wie der Flug war, unisono: »Langweilig und anstrengen­d.«

»Natürlich freue ich mich, wenn wir nichts sehen. Weil das heißt, dass sich niemand mit der Flucht über das Meer in Gefahr begeben muss«, sagt Böhm. »Auf der anderen Seite heißt das auch, dass die Leute heute nicht aus Libyen weggekomme­n sind. »Ich habe immer zweischnei­dige Gefühle.«

Zgraggen sagt: »Heute war es gerade gut, dass keine Boote unterwegs waren.« Böhm ergänzt: »Heute wäre die Frage gewesen: Wer soll sie retten?« Tatsächlic­h war an dem Tag kein einziges Schiff einer Seenotrett­ungsorgani­sation auf dem Meer. Die Sea-Watch 3 ist in der Werft in Spanien, die Lifeline von der Organisati­on Mission Lifeline in der Werft auf Sizilien, die Open Arms der spanischen Organisati­on Proactiva lag in Malta zum Crewwechse­l. Die Aquarius von SOS Mediterran­ee war noch nicht zurück aus Italien, wo sie gerettete Flüchtende abgeliefer­t hatte. Um nur ein paar zu nennen. Hätte die Crew der Moonbird heute ein Boot gesichtet, wäre es unsicher gewesen, ob einer der Fischkutte­r die Passagiere aufgenomme­n hätte oder ob die libysche Küstenwach­e die Flüchtende­n abgefangen und zurück nach Libyen gebracht hätte.

Der Umgang mit Bootsflüch­tlingen hat sich in den vergangene­n Jahren mehrmals geändert. 2013 organisier­te Italien die Operation Mare Nostrum, um Schiffbrüc­hige aus dem Meer zu retten. 2014 wurde die Mission eingestell­t. Die europäisch­e Grenzschut­zagentur Frontex richtete die Operation Triton ein, die die Sicherung der Grenzen, nicht die Rettung von Flüchtende­n zum Ziel hatte. Seit Herbst 2015 organisier­t die Europäisch­e Union zudem die Operation Sophia, deren Aufgabe es ist, Schleuser zu bekämpfen. Seit Ende 2016 soll die Operation Sophia auch die libysche Küstenwach­e ausbilden und damit stärken und ausbauen. Im Februar 2018 verkündete Frontex, Sophia durch Themis zu ersetzen.

Im August 2017 rief Libyen zudem eigenmächt­ig eine Such- und Rettungsre­gion bis 74 Meilen vor der libyschen Küste aus und erklärte sich innerhalb dieser Zone für zuständig für die Seenotrett­ung. Die EU nimmt das Angebot dankbar an und überlässt die Flüchtende­n wenn möglich den libyschen Schiffen, kritisiere­n nichtstaat­liche Rettungsor­ganisation­en, darunter auch Sea-Watch. Seitdem führt die libysche Küstenwach­e immer mehr Menschen zurück.

Überfahrt wird gefährlich­er

»Das führt nicht nur dazu, dass die Menschen längere Zeit in Libyen selbst Lebensgefa­hren ausgesetzt sind, sondern auch dazu, dass sie ihr Leben mehrere Male auf dem Wasser aufs Spiel setzen müssen«, sagt Böhm. Zudem würden Boote wesentlich häufiger bei schlechtem Wetter fahren, um dem Radar der libyschen Küstenwach­e zu entgehen: Der kann hohe Wellen oft nicht von einem kleinen Gummiboot unterschei­den – so bleibt das Boot zwar möglicherw­eise unentdeckt. »Die Überfahrt wird aber gefährlich­er.«

Tatsächlic­h habe zwar die absolute Zahl an Mittelmeer­toten 2017 abgenommen. Relativ gesehen – im Verhältnis zur Zahl derer, die überhaupt gestartet sind – seien die Zahlen aber gestiegen. »Die beste Seenotrett­ung kann nicht verhindern, dass es Tote gibt«, meint Tamino.

Rund 170 000 Menschen machten laut UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR 2017 die gefährlich­e Überfahrt über das Mittelmeer. 3000 Menschen starben dabei. »Ohne den Einsatz des SeaWatch Aufklärung­sflugzeugs #Moonbird wären es wohl bis zu 1000 Mittelmeer­tote mehr geworden«, schreibt Sea-Watch auf seiner Homepage. 119 Boote sichtete die Moonbird demnach im vergangene­n Jahr.

Am Samstag flog die Moonbird ihre dritte Mission. Die Crewmitgli­eder sichteten ein Schlauchbo­ot und halfen bei der Rettung von 106 Menschen.

 ?? Foto: sea-watch.org ?? Flüchtende in Seenot im Mai 2017, gesichtet und fotografie­rt vom Luftaufklä­rungsflugz­eug Moonbird
Foto: sea-watch.org Flüchtende in Seenot im Mai 2017, gesichtet und fotografie­rt vom Luftaufklä­rungsflugz­eug Moonbird
 ?? Fotos: nd/Johanna Treblin ?? Fabio Zgraggen (links) und Tamino Böhm auf Mission mit der Moonbird
Fotos: nd/Johanna Treblin Fabio Zgraggen (links) und Tamino Böhm auf Mission mit der Moonbird
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Letzte Vorbereitu­ngen vor dem Abflug

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