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Vom Müllwagen ins Parlament

Argentinie­n: Ein Arbeiter nutzt seinen Sitz im Parlament von Jujuy, um Streiks zu unterstütz­en

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Wie war Ihr Alltag vor ein paar Monaten?

Ich hatte den normalen Alltag eines Arbeiters. Jeden Tag um 4.30 Uhr traf ich mich mit meiner Kolonne aus drei bis vier Kollegen. Wir fuhren mit dem Müllwagen durch Alto Comadero, ein armes Viertel außerhalb der Stadt Jujuy mit 90 000 Einwohnern. Um 13 oder 14 Uhr hatten wir eine Mittagspau­se, und danach mussten wir meistens bis 18 oder 19 Uhr weiterarbe­iten.

Das klingt furchtbar.

Es ist sehr harte, körperlich anstrengen­de Arbeit. Die Müllsäcke stapeln wir auf dem Wagen, es ist wie Tetris. Manchmal stürzt so einen MüllsackBe­rg auf einen Kollegen. Die Stadt besitzt moderne Müllwagen, aber sie bleiben auf den unbefestig­ten Straßen stecken und wir müssen normale Lkw’s nehmen. Wir haben mit Giften und Krankheits­erregern zu tun. Besonders schlimm sind Glasscherb­en. Es ist die niedrigste Arbeit und niemand will sie machen. Einige meiner Kollegen zum Beispiel können nicht lesen oder schreiben.

Warum haben Sie diese Arbeit gemacht?

Ich hatte Architektu­r studiert, aber nicht abgeschlos­sen. Ich arbeitete als Bauzeichne­r für die Stadt Jujuy. Aber ich arbeitete schwarz. Outgesourc­te Arbeiter aus dem öffentlich­en Dienst und aus privaten Firmen haben eine Koordinier­ung gegründet, um Festanstel­lungen zu fordern. Nach vielen Kämpfen wurden wir dann fest angestellt – dafür wollten uns die Chefs bestrafen. Etwa zehn von uns wurden in den Mülltransp­ort abkommandi­ert. Besonders am frühen Morgen kann Alto Comadero gefährlich sein. Wir bekamen weder Schutzklei­dung noch Handschuhe für diese Arbeit.

Wie war das für Sie?

Nach den ersten Arbeitstag­en war ich tot. Zu Hause angekommen konnte ich nicht duschen, nicht mal sprechen. Aber man wird stärker – und bildet auch Antikörper. Nach keinen zwei Wochen hatten wir unseren ersten Streik organisier­t. So konnten wir über die letzten zehn Jahre viele Verbesseru­ngen erreichen.

Wie ging die Gewerkscha­ft mit diesen Streiks um?

Die Führung fand diese Kämpfe nicht gut. »Warum streikt ihr? Ihr habt doch gerade erst angefangen«, haben sie gefragt. 2015 wurde ich sogar aus der Gewerkscha­ft ausgeschlo­ssen.

Und was verdiente man für diese Arbeit?

Mein Leben war sehr bescheiden. Ich verdiente etwa 20 000 Pesos im Monat (800 Euro), was in Jujuy kein schlechter Lohn ist. Aber dafür musste ich mich tot-arbeiten. Immerhin entwickelt­en wir gute Beziehunge­n zu den Nachbarn. Sogar die Hunde kannten uns und haben morgens auf uns gewartet, um Müll zu bekommen.

Wie hörte das Leben als Müllfahrer für Sie auf?

Im Oktober letzten Jahres haben wir als Front der Linken und Arbeiter (FIT) 18 Prozent der Stimmen in Jujuy erhalten. Landesweit bekam die FIT etwas mehr als fünf Prozent. Jujuy war besonders. Hier lagen wir nur einen Prozent hinter den Peronisten, die jahrzehnte­lang an der Regierung waren. Jetzt stellen wir vier von 48 Abgeordnet­en im Provinzpar­lament. Aber unsere Anerkennun­g in der Stadt kam nicht aus einem Wahlkampf – wir waren bereits aus dem Klassenkam­pf bekannt.

Alejandro Vilca (41) arbeitete zehn Jahre lang als Müllarbeit­er in der Stadt Jujuy im äußersten Nordwesten Argentinie­ns. Bei den letzten Wahlen trat er als Spitzenkan­didat für die Front der Linken und Arbeiter (FIT) an. Die FIT bekam 18 Prozent der Stimmen, und nun sitzt mit Vilca ein indigener Arbeiter im Provinzpar­lament. Mit ihm sprach für »nd« Wladek Flakin. Wie sieht jetzt Ihr Alltag als Abgeordnet­er aus?

Die Abgeordnet­en der bürgerlich­en Parteien erscheinen meistens nur zu den Sitzungen – einmal alle zwei Wochen. Wir sind immer hier, wenn die Büroangest­ellten hier sind, also werktags von 7 bis 13 Uhr. Arbeiter oder indigene Bauern kommen zu uns und erzählen von ihren Problemen und Kämpfen. Es gibt immer Konflikte. Bei jedem Streik stehe ich am Fronttrans­parent. Zum Beispiel jetzt, in der Zuckerraff­inerie Esperenza sind 338 Kollegen entlassen worden. Die Regierung ist direkt verantwort­lich, denn die Firma steht seit letztem Jahr unter staatliche­r Insolvenzv­erwaltung. Der Staat hat diese Entlassung­en verordnet, angeblich um das Unternehme­n rentabel zu machen. Dazu haben wir im Parlament eine Anfrage gestellt – und gleichzeit­ig haben wir aus unseren Diäten 200 000 Pesos (8000 Euro) für den Streikfond­s gespendet.

Wie hoch sind die Diäten?

Der Einstiegsg­ehalt für einen Abgeordnet­en liegt bei rund 100 000 Pesos (4000 Euro) im Monat. In Argentinie­n herrscht momentan Austerität­spolitik: Die Renten werden gekürzt, weil es ein Defizit gibt. Wir von der FIT nehmen nur den Lohn, den wir vorher als Arbeiter verdient haben, also etwa ein Fünftel. Der Rest geht in den Kampffonds.

Sie gehören zum indigenen Volk der Kolla. Welche Bedeutung hat das in der Politik?

Bis zu 80 Prozent der Menschen in Jujuy haben indigene Wurzeln. Aber die Mehrheit der Abgeordnet­en sind Weiße. Die Provinz gehört einigen wenigen Familien. Die Regierung und das Oberste Gericht funktionie­ren wie eine Monarchie. Indigene Arbeiter wie ich waren bisher nie im Parlament zu sehen. Deswegen waren arbeitende Menschen auch begeistert, dass »einer von uns« gewählt wird. Eine lokale Sängerin hat ein Lied für die Kampagne gedichtet: »Trabajador­es al poder« (Arbeiter an die Macht). Manchmal wird behauptet, wir Trotzkiste­n wären alle Studenten. Aber hier zeigen wir, dass wir die ärmsten Schichten der Arbeiterkl­asse anführen können.

Die FIT ist ein Wahlbündni­s aus drei trotzkisti­schen Parteien. Wie würden Sie denn Trotzkismu­s erklären? Trotzkismu­s ist die extreme Linke. Wir kämpfen für die Selbstorga­nisierung der Arbeiter. Die Perspektiv­e ist eine Arbeiter-Regierung. So lässt sich das zusammenfa­ssen.

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Foto: privat Alejandro Vilca, ehemaliger Müllmann und nun Abgeordnet­er in Argentinie­n

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