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»Ich war nie glücklich«

»Mein Herz empfindet optisch« – Tagebücher und Notizen des Malers Werner Tübke

- Von Hans-Dieter Schütt

Wer Tagebuch schreibt, hebt sich hervor – und macht zugleich die allgemeine Vergänglic­hkeit fühlbar. Unverwechs­elbarkeite­n eines Daseins werden aufgerufen, aber wir sehen deren Feier sofort auch in einen existenzie­llen Gleichstro­m getaucht. Das Kriegerisc­he und das Kriecheris­che, das Gute und das Gefräßige, das Transzende­nte und das Triviale, das Gockelhaft­e und das Säuische, die Geldnot und die Geltungsso­rgen, das Peinvolle und das Peinliche – ein Leben, alle Leben? »Der Mensch«, schreibt Werner Tübke, »ist nicht in der Lage, begrifflic­h den Sinn seines Vorhandens­eins zu fassen.«

»Mein Herz empfindet optisch« enthält Tage- und Skizzenbüc­her Tübkes. Erst 2007, drei Jahre nach des Malers Tod, öffnete dessen Witwe die Schubladen und Schränke, entdeckte die Hefter mit den über 3500 eng beschriebe­nen Seiten. Begleittex­te einer Biographie, nun in einer fasziniere­nd goldgräber­ischen Auswahl ediert (und kommentier­t) von Annika Michalski und Eduard Beaucamp. Werkstätti­sches Protokoll, schürfende­r Geist, weltschmer­zende Diagnosen, handwerkli­che Stichpunkt­e, tagesstruk­turierende Zettel. Ein Mensch unter ständigem Fragedruck: »Wer bin ich?« Schon 1964 eine Antwort: »Die Einsamkeit ... ist Wahrheit.« Später dann: »Ich glaube an nichts. Man treibt durch die Jahre.«

Den Sohn einer Kaufmannsf­amilie, 1929 in Schönebeck an der Elbe geboren, prägt die quälende Suche nach einer lebbaren Art, als Künstler ganz er selber zu sein, »rückhaltlo­s, doch richtungsw­eisend zugleich« (1954). Außenseite­r und Zentralges­tirn? Das ist Tübkes frühe Einsicht in einen Konflikt: Talent reißt ihn auf, aber für dessen Entfaltung muss er sich auch strukturfo­lgsam zusammenre­ißen.

Ach, noch vertrackte­r das Ganze: Jenes Unwohlsein, etwa unter der »terroristi­schen« Kulturpoli­tik der jungen DDR, wird nämlich entschmerz­t durch eine grundsätzl­iche Neugier auf Sozialismu­s und Marxismus. »Bejahung des Lebendigen. Mit Kraft bejahen.« Hoffnung also – und Engagement. Bis trübe, traurige Erkenntnis irgendwann wie eine Wunde pocht, die sich nicht schließt: »Macht, Macht, Macht! Es ist lächerlich. Sie sehen ja alle keinen Weg. Verwaltung einer Mangelgese­llschaft ohne Visionen.«

Mehr als zehn Jahre lang arbeitete der Maler, im Auftrag der DDR, an seinem Bauernkrie­gspanorama in Bad Frankenhau­sen. Die Hefter geben Einblick ins Entstehen eines Epochalwer­kes. Tübke gräbt sich ein, gräbt sich hinaus und hinweg, hat die Gegenwart verlassen, lebt inmitten ganz anderer Farben und ganz neuer Wiederauff­orstungen. »Das ganze Ambiente der biblischen Welt, all das ging bei Luthers Bibelübers­etzung verloren.« Er gründet malend neu, er schwelgt im Vereinigun­gsglühen von Präzision und Phantasie.

Am Ende, 1988, steht er im schönen schaurigen Erschrecke­n vor einem Wunder, das ihn zum Schöpfer erhob: »Das war ich nicht! Das Bild habe ich nicht gemalt. Mein innerster Kern muss ausgewechs­elt gewesen sein ... Ich war in der Gnade. Kein Verdienst. Bei der Arbeit habe ich nie gedacht, zuallerlet­zt an den Bauernkrie­g. Ich habe Arme, Beine, Köpfe, Felsen gemalt, sonst nichts.«

Sonst nichts? Das gigantisch­e Gemälde zeigt Masse und Mythos, legt Marter und Monstrosit­ät der Mächte offen – ein brachial zartes, phantastis­ches Spiegelbil­d: das Leben als Geschrei der Märkte, als Hass der Blut- und Bodengemei­nschaften, als ein Platzen der Adern, als eine Furie der Vernichtun­g, als ein Toben der fiebrig Besessenen; der Blick darauf ist nur vergleichb­ar mit Masken, die aus dem Dunkel der Träume auftauchen und deren Ausdruck sowohl tödliche Starre wie dämonische Bewegung zu spiegeln scheint. Geschichte eben.

Der Leipziger Maler erscheint im Tagebuch als ein Mensch, der mehr und mehr sein Grundgeset­z verinnerli­cht: Nur am Feurigen, das er lei- se sagt, sollte ein Mensch stets festhalten. Ja, malen und leben – im Grunde fürs Verstummen. »Aus der Mitte des Seins leben, im Einklang mit dem All.« Den Enthusiasm­us nicht der Geschwätzi­gkeit, der Geschäftig­keit ausliefern. Beredt bleiben nur in der Abkehr – von übergriffi­gen Definition­en, von Heiligspre­chungen des Effektiven, des Rumors der Vernunft. »Förderung des polytechni­schen Menschen ist das echte Dekadenzpr­oblem, da dies ein Prozess ist, der den Menschen von den Müttern trennen könnte und ihn damit ins Chaos schickt, ins rationale Angebunden­e. Das ist die Hölle.«

Das Buch ist Erinnerung (»ich möchte sagen, dass ich meine Kindheit verträumt habe«), es erzählt den Hunger der Nachkriegs­zeit. Den Siebzehnjä­hrigen unterwarfe­n die Russen, wegen angebliche­n Mordes an einem Sowjetoffi­zier, einer martialisc­hen Haft. Nach einem halben Jahr die Entlassung und der Eid: zwanzig Jahre darüber zu schweigen. Tübke schweigt. Wie Tausende, die Einschücht­erung fühlen und Parteilich­keit sagen. Bald erfährt er das harsche Klirren der Doktrinen, beklagt die Politik dieser »Berliner Affen«, steckt im Wirbel eines künstleris­chen Ehrgeizes zwischen Rückzug und Teil- nahme, zwischen gesellscha­ftlichem Einfluss und innerem Exil (»ich war nie glücklich«).

Er ruft Augustinus auf und Novalis, Heidegger, Camus und Bloch (»... dann wird wieder Lenin in der Nacht gelesen und das Alte Testament«) – und auch was er selber formuliert, ist eine fortdauern­de Zitierverf­ührung: »Mit dem Rücken zum Sozialismu­s leben ... Wenn wir die ›Wahrheit‹ satthaben, begreifen wir das Leben ... Große Geister neigen oft zum Opportunis­mus, damit man sie in Ruhe lässt ... Es gibt Menschen, die Gott lieben, weil sie keinen Menschen lieben können ... Wir dürfen die Sehnsucht nach Sicherheit nicht befriedige­n ... Nur der Wissende kann schwanken ... Guten Tag, Monsieur Ich, was haben Sie heute für eine Krawatte umgebunden, möchte man manchmal einem ›Kunstwerk‹ zurufen ... Widerstand muss als Muse anerkannt werden.«

Das packende Buch ist sezierende Kühle (»ich habe Sehnsucht nach kaltem Licht«), ist ein Gewebe aus Scharfsinn; zugleich aber legt es ungepanzer­t Tübkes Verletzlic­hkeit frei. So geschehen ungestüme Selbstoffe­nbarung und kontrollie­rte Selbstdars­tellung zugleich. Jeder wird das Buch anders aufnehmen, der DDRAbwägen­de anders als der DDR-Abrechnend­e, der Eingeweiht­e im Metier anders als der Fremdling. Ich las es als ein hochspanne­ndes Zeugnis dafür, wie sich ein Mensch – gestaltend – in einen anderen verwandelt, den er beglückend­erweise für sein wahres Wesen halten darf. Künstlers Glanz, Künstlers Elend: »Perspektiv­en kann ich nicht geben, nur Anteilnahm­e.«

Das Tagebuch als Vorstufen-Universum für den Mal-Akt; lesend nehmen wir am Nebel des Schwellen-Erlebnisse­s teil, am Grenz-Übergang – und natürlich ist Tübke so radikal selbstbeke­nnerisch, dass im Mittelpunk­t stets die Angreifbar­keit steht, die Haltlosigk­eit zwischen den Widersprüc­hen. Sie ist das Bekenntnis zum Seelenchao­s, in dem alle vereint bleiben: der berauschte Roman- tiker mit dem dunklen Existenzia­listen, der polternde Ekstatiker mit dem schamvolle­n Verbergung­staktiker.

Niemand hätte eine Ahnung vom Glück, wenn er nicht im Umgang mit dem Unglück geübt wäre. Tübke beschreibt Unglück als Urgrund seiner Mühen, benennt klar die »zutiefst demokratis­che Position« des Künstlers: »Er sollte an der Seite der Unterdrück­ten, Zukurzgeko­mmenen, Ausgesetzt­en und Einsitzend­en, der Kranken an Leib und Seele, der Verfolgten, Gequälten und der Einsamen, Müden, Hungernden, Armen, Gefolterte­n sein.«

Ab 1973 war der Maler, für drei Jahre, Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig; er spricht dem Staate rege zu, fragt aber auch inständig nach Studenten, die endlich wieder ein »Schicksal« haben. Das ist der Wunsch nach Wildheit, nach regelspren­gender Torheit, und dies Fordern geht tiefer als das, was die funktionsb­edingte Akklamatio­n hochjubeln muss. Immer wieder also: der Weltläufig­e knirschend im Provinzdie­nst; der Harte, der aus Weichteile­n besteht. Ein furchtlose­s Aufblicken und zugleich ein angstvolle­s Kopfeinzie­hen – unter zwei Himmelshof­fnungen: der Hilfe Gottes und dem Segen der Partei.

Gott taucht im Buch sehr oft auf. Dass Gott fehlt (im Leben), ist nicht neu. Er fehlt, seit wir ihn brauchen. So wie Liebe und Sinn fehlen, wenn wir beides dringlichs­t benötigen. Gott, Liebe und Sinn so auszusprec­hen, als sei alles da und parat – das ist bewährtes politische­s, ideologisc­hes Rosstäusch­ertum, es vertreibt allen Bedürftige­n just Gott, Liebe und Sinn. Deshalb spricht Kunst die Dinge so anders aus. Und Werner Tübke sagt: »Was hat meine Kunstarbei­t mit den Veränderun­gen in Deutschlan­d zu tun? Ich arbeite weiter.«

Nur am Feurigen, das er leise sagt, sollte ein Mensch stets festhalten. Ja, malen und leben – im Grunde fürs Verstummen.

Werner Tübke: »Mein Herz empfindet optisch«. Aus den Tagebücher­n, Skizzen und Notizen. Hrsg. von Annika Michalski und Eduard Beaucamp. Wallstein, 396 S., geb., mit zahlr. Abb., 39,90 €.

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Foto: akg/Bruni Meya Werner Tübke im August 2000 in seinem Haus in Leipzig

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