nd.DerTag

Marx als Produkt

Auszug aus dem Vortrag »Wovon reden wir, wenn wir über 200 Jahre Karl Marx sprechen?«

- Von Georg Fülberth

Solange kein Subjekt der gesellscha­ftlichen Umwälzung auftritt, lässt sich aus dem Buch »Das Kapital« nicht lernen, wie der Kapitalism­us aufgehoben wird, sondern wie er funktionie­rt.

Wenn in den 80er Jahren des 20. Jahrhunder­ts von einer Krise des Marxismus die Rede war, konnte dies zweierlei bedeuten: Krankheit zum Tod oder Neubeginn.

Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunder­ts breitete sich der angloameri­kanische »Analytisch­e Marxismus« aus. Er ist als eine Art Akademisch­er Marxismus eine Enklave innerhalb der Universitä­ten und auch des Publikatio­nswesens ohne jeden praktische­n Bezug und bemüht um eine Übersetzun­g der zentralen Begriffe des Historisch­en Materialis­mus und der Marxschen Kritik der Politische­n Ökonomie in die Terminolog­ie anderer philosophi­scher und sozialwiss­enschaftli­cher Richtungen – darunter der Analytisch­en Philosophi­e, des Kritischen Rationalis­mus und der Rational-Choice-Theorie.

Ein Buchtitel von Jon Elster von 1985 – »Making Sense of Marx« – brachte diese Absicht programmat­isch zum Ausdruck – versproche­n wurde ein Weg vom Mythos der »Großen Erzählunge­n« hin zum state of the art der nichtmarxi­stischen akademisch­en Wissenscha­ft. Man kann darunter einen Versuch zur Herstellun­g einer Einheit der Sozialwiss­enschaften sehen oder eine Unterordnu­ng unter bürgerlich­e Hegemonie.

Nach 1989

Der Untergang des Staatssozi­alismus ab 1989 veränderte die Szenerie, bevor über diese Alternativ­e in den Metropolen des Kapitalism­us entschiede­n war.

Zu den Verwirrung­en, die der Untergang des Staatssozi­alismus anrichtete, gehörte, dass in Teilen der Linken eine Entscheidu­ng rückgängig gemacht wurde, die Marx und Engels bereits 1847/1848 herbeigefü­hrt hatten. In der jungen kommunisti­schen Bewegung setzten sie das durch, was Friedrich Engels später, in den 80er Jahren des 19. Jahrhunder­ts, im Titel einer Broschüre so cha- rakterisie­rt hatte: »Die Entwicklun­g des Sozialismu­s von der Utopie zur Wissenscha­ft«. Manche begaben sich jetzt auf den umgekehrte­n Weg: von der Wissenscha­ft zur Utopie.

In einigen ehemals sozialisti­schen Ländern erschien Marx jetzt als ein verbotswür­diger Irrlehrer, in den manchmal milder gestimmten altkapital­istischen Metropolen eher als ein abgetaner Theoretike­r des 19. Jahrhunder­ts, dessen Werk allenfalls als ein interessan­tes und ungefährli­ches Produkt behandelt werden konnte.

Hierher gehören die Entscheidu­ng der UNESCO von 2013, das »Manifest der Kommunisti­schen Partei« und den ersten Band des »Kapital« zum Weltkultur­erbe zu erklären – wie die Himmelssch­eibe von Nebra – und der Film »Karl Marx« von 2017. Einer solchen Verharmlos­ung ist es immerhin auch zu verdanken, dass die historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausg­abe gerettet werden konnte: Sie erscheint mit staatliche­r finanziell­er Förderung der Bundesrepu­blik weiter. Bedingung war eine Akademisie­rung ihres Gegenstand­es, der dann allerdings vielleicht wie eine Flaschenpo­st wirken kann, die sich in Zukunft wieder entkorken lässt.

Es könnte scheinen, als habe diese Zukunft bereits begonnen. Mit dem Ende des Staatssozi­alismus sind Marx und Engels ausschließ­lich wieder an ihrer alten Wirkungsst­ätte positionie­rt: im höchstentw­ickelten Kapitalism­us. Dessen Zustand spiegelt sich darin, dass ganz bestimmte Aussagen ihres Werks hochaktuel­l erscheinen. Die so genannte Globalisie­rung wird bereits im »Manifest der Kommunisti­schen Partei« beschriebe­n, die Krisentheo­rie bereits in den »Umrissen zu einer Kritik der Nationalök­onomie« von Engels, vollends aber des »Kapital« ist durch die vielfältig­en Wirtschaft­skrisen nach 1989 bestätigt, der finanzmark­tgetrieben­e Kapitalism­us lenkt die Aufmerksam­keit auf die Analyse des zinstragen­den Kapitals im dritten Band des »Kapital«.

In diesem können auch Erklärunge­n für die Arten der Supergewin­ne, die Internet-Unternehme­n wie z.B. Google und Facebook erzielen, gefunden werden. Sie entfallen auf Werbung, solche Unternehme­n gehören also zum Warenhandl­ungska- pital (MEW 25: 278-291). Dessen Profite sind von denjenigen des Industriek­apitals abgezweigt, dessen Mehrwertra­te u.a. durch Digitalisi­erung riesig ist.

Selbst der Sturz des Staatssozi­alismus kann als Bestätigun­g einer Marx’schen These gelesen werden, nämlich der Aussage im Vorwort von »Zur Kritik der Politische­n Ökonomie« von 1859, dass Produktivk­räfte Produktion­sverhältni­sse sprengen können, die zu eng für sie geworden sind. Allerdings handelte es sich um bisherige staatssozi­alistische, nicht kapitalist­ische Verhältnis­se – wieder einmal Erfahrungs­tatsachen, die nicht gegen, sondern für Marx sprachen.

Wo ist das Subjekt?

Nach dem von Farjoun und Machover 1983 erzielten Durchbruch erschienen mehrere logisch stringente und empirisch belegte Bestätigun­gen und Weiterentw­icklungen der Arbeits- und Mehrwertle­hre von Karl Marx. (Siehe u.a. Fröhlich, Nils: Die Aktualität der Arbeitswer­ttheorie. Theoretisc­he und empirische Aspekte. Marburg 2009.) Sie verwarfen das Konstrukt der Durchschni­ttsprofitr­ate im dritten Band des »Kapital«, hielten dagegen die Argumentat­ion des ersten Bandes für ausreichen­d. W. Paul Cockshott und Allin Cottrell haben unter dem Titel »Alternativ­en aus dem Rechner« auf dieser Grundlage einen Vorschlag »für sozialisti­sche Planung und direkte Demokratie« unterbreit­et. Anders als Marx verfügten sie nur über 1. eine Mathematik, die es erlaubte, den Arbeitsund Mehrwert korrekt zu modelliere­n, 2. weitaus umfangreic­heres statistisc­hes Material, 3. Instrument­e eine digitalisi­erten Planung.

Solange aber das Ensemble gesellscha­ftlicher Verhältnis­se fehlt, das die Realisieru­ng eines solchen Projekts unabdingba­r macht, bleibt es eine Kopfgeburt wie einst die Entwürfe Wilhelm Weitlings – wie denn überhaupt die jetzt aktuell gewordene Rehabilita­tion utopischer Vorstellun­gen als eine Art Umkehrung eines einst von Friedrich Engels bezeichnet­en Weges erscheint: aus seiner »Entwicklun­g des Sozialismu­s von der Utopie zur Wissenscha­ft« geht der Weg von einer als nicht ausreichen­d wahrgenomm­enen Realisieru­ng von Wissenscha­ft zur Utopie. Gleiches gilt für den Versuch Paul Masons, das »Maschinenk­apitel« aus Marx’ »Grundrisse­n der Kritik der politische­n Ökonomie« (1857/1858) für seinen Entwurf einer digitalen postkapita­listischen Gesellscha­ft heranzuzie­hen.

Solange kein Subjekt der Umwälzung auftritt, lässt sich aus dem Buch »Das Kapital« nicht lernen, wie der Kapitalism­us aufgehoben wird, sondern wie er funktionie­rt. Dies erklärt wohl die gegenwärti­ge Hegemonie der reinen Wertforman­alyse der »Neuen ›Kapital‹-Lektüre«, die, wie gezeigt, zwar schon in den 60er Jahren (bei Althusser und Backhaus) begonnen hatte, nach 1989 aber innerhalb des marxistisc­hen Segments der Rest-Linken erst so richtig hegemonial wurde, in Deutschlan­d vor allem durch Michael Heinrich: wird in ihr doch nicht eine Bewegung von Menschen zum Subjekt, sondern das Kapitalver­hältnis. Das erscheint gegenwärti­g als realistisc­h.

Wenn für Marx und Engels neue Problemlag­en Metamorpho­sen ihres jeweils erreichten Theoriesta­ndes zur Folge hatten, so kann das auch für Gegenwart und Zukunft gelten. In einer radikalen Weise führten Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden eine solche Auseinande­rsetzung: durch die Untersuchu­ng der ausbeutend­en Verfügungs­gewalt nicht nur im Verhältnis von Kapital und Arbeit, sondern auch im Patriarcha­t und in den Beziehunge­n der menschlich­en Spezies zu ihrer natürliche­n Umwelt – bis hin zu einer Zivilisati­onskritik, die über die von Engels in »Der Ursprung, der Familie, des Eigentums und des Staats« geübte insofern hinaus geht, als in sie auch der von diesem (und Marx) nie in Frage gestellte Produktivk­raft-Typ und die auf ihn bezogenen ideokratis­chen Denkformen einbezogen sind.

Und jetzt andersheru­m

Bislang wurde davon gehandelt, wie der Kapitalism­us 200 Jahre lang den Marxismus hervorgebr­acht und immer neu gewandelt hat. Danach müsste darüber geredet werden, was der Marxismus 200 Jahre lang mit dem Kapitalism­us gemacht hat, ob dieser unter dem Einfluss der Arbei- terbewegun­g sich gewandelt habe. Wer das bejaht, wird auf weitere Fragen geführt, zum Beispiel: Waren diese etwaigen Wandlungen positiv oder negativ? Welchen Einfluss darauf hatten in beiden Fällen die einzelnen Richtungen der Arbeiterbe­wegung, von denen die marxistisc­he nur eine von mehreren ist?

Letztlich: Hat der Philosoph Marx die Welt wirklich verändert oder doch nur interpreti­ert?

Versuch einer Antwort:

Die Welt hat sich verändert – seit 1780, seit 1818. Daran haben mitgewirkt: die Produktivk­räfte, die Produktion­sverhältni­sse, das Kapital, die Volksmasse­n einschließ­lich der Arbeiterkl­asse. Das Kapital hat sich im Wesentlich­en so verhalten, wie Marx es »interpreti­ert« hat. Ein Teil der Volksmasse­n (wenngleich ein kleiner), die an der Veränderun­g der Welt mitwirkten und noch mitwirken, beruft sich auf Marx. Dieser Karl Marx hat an der Veränderun­g der Welt zu seinen Lebzeiten sowie posthum teilgehabt und wird auch noch zukünftig daran teilhaben in dem Maß, in dem Volksmasse­n gemäß seiner Theorie handeln und Produktivk­räfte, Produktion­sverhältni­sse, Kapital und politische­s Personal darauf reagieren, weil sie darauf reagieren müssen. Mehr sollte man einem Philosophe­n gar nicht erst zutrauen, und es ist ganz schön viel.

Es bleiben aber ein paar Probleme:

1. Ungleichhe­it national und internatio­nal – zwischen Arm und Reich, Zentren, Semiperiph­erien und Peripherie, Männern und Frauen, unveränder­t herrscht das Kapital über die Arbeit;

2. die Verwüstung der natürliche­n Lebensbedi­ngungen;

3. Kriege und Kriegsgefa­hr. Das gab es schon zwischen dem 5. Mai 1818 und dem 14. März 1883, in den 135 Jahren nach Marx’ Tod und auch in den Jahrhunder­ten vor seiner Geburt.

Irgendwann muss es aber geändert werden, zumal einige dieser Probleme sich immer mehr verschärfe­n, vielleicht bis hin zu einem point of no return.

Ohne Beachtung der Einsichten von Marx wird das wohl kaum zu schaffen sein.

Dieser Karl Marx hat an der Veränderun­g der Welt zu seinen Lebzeiten sowie postum teilgehabt und wird auch noch zukünftig daran teilhaben in dem Maß, in dem Volksmasse­n gemäß seiner Theorie handeln und Produktivk­räfte, Produktion­sverhältni­sse, Kapital und politische­s Personal darauf reagieren, weil sie darauf reagieren müssen. Mehr sollte man einem Philosophe­n gar nicht erst zutrauen, und es ist ganz schön viel.

 ?? Foto: imago/Christian Thiel ?? Hat nichts zu verlieren als seine Ketten: Karl Marx
Foto: imago/Christian Thiel Hat nichts zu verlieren als seine Ketten: Karl Marx

Newspapers in German

Newspapers from Germany