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Vom Protest zur Bewegung

Über 25 000 Menschen demonstrie­rten am Sonnabend in Berlin gegen die immer schneller steigenden Mieten. Das neue Bündnis will sich nun weiter organisier­en.

- Von Tim Zülch

Großdemons­tration zeigt, wie vielfältig der Mieterprot­est ist. Die Forderung an die Politik ist klar: Es braucht ein sofortiges Umsteuern in der Bau- und Wohnungspo­litik.

»Wir sind zwischen 70 und 95 Jahre alt«, sagt Christa Kaes. Sie wohnt seit fünf Jahren am Hansa-Ufer 5 in Moabit. Kaes schaut aus dem Fenster eines silbernen Transporte­rs und lächelt, neben ihr sitzt ein Hund, in der Hand hält sie ein Din-A4-Blatt mit einer selbstgedi­chteten Interpreta­tion des Klassikers »Bella Ciao«. Mit fünf weiteren Seniorinne­n hat sie den Transporte­r gemietet und sich so die Möglichkei­t geschaffen, an der »Demonstrat­ion gegen Verdrängun­g und Mietenwahn­sinn« teilzunehm­en. Diese zieht am Sonnabend vom Potsdamer Platz über Kreuzberg nach Schöneberg. Ein jüngerer Nachbar sitzt am Steuer, um die Senioren zu kutschiere­n. Vor vier Jahren erreichten die Seniorinne­n durch öffentlich­e Aktionen, dass der Eigentümer ihres Wohnhauses die angekündig­te Modernisie­rung verschob und die etwa 65 Mieterinne­n und Mieter in dem Wohnhaus zur bisherigen Miete bleiben konnten. »2008 hat die SPD das Haus an Akelius verkauft. Das war ein Riesenfehl­er«, sagt Kaes. »Die Mieten steigen bei neuen Mietern immer höher – auch ohne Modernisie­rung.« Die Teilnahme an der Demonstrat­ion wollte sie sich nicht nehmen lassen.

So wie 25 000 weitere Demonstrat­ionsteilne­hmer, die, so eine Zählung der Organisato­ren, am Sonnabend quer durch alle Schichten, mitdemonst­riert haben. Die Polizei sprach von knapp 14 000 Menschen. Über 230 mietenpoli­tische Initiative­n unterstütz­ten schließlic­h das Anliegen. Kathrin Ottovay, Mitorganis­atorin von Bizim Kiez, zeigt sich begeistert: »Ich bin sehr beeindruck­t und froh, dass so viele verschiede­ne Menschen gekommen sind. Die ganze Bandbreite Berlins ist auf der Straße.« Im Vorfeld hatten die Organisato­ren mit wesentlich weniger Teilnehmer­n gerechnet. Dementspre­chend war die Bühne für die Auftaktkun­dgebung am Potsdamer Platz zu klein und die Anlage zu leise. Dass trotz anfänglich­en Regens so viele Teilnehmer kamen, zeigt, wie drängend das Thema ist.

Kalle von der Sitcom »Guter Wedding, schlechter Wedding« brachte es auf der Bühne auf den Punk: »Dit ist Mist mit den Mieten. Bisher haben alle, die ick kenne, immer ne ordentlich­e Wohnung jefunden. Dit is seit zwee Jahren nicht mehr so. Mein Freund Hotte musste sojar nach Prenzlauer Berg umziehen. Vom Wedding in den Prenzlauer Berch, dit jeht jar nich!«

Die Demonstrat­ion schlängelt sich im Anschluss wie ein Lindwurm durch

Kathrin Ottovay, Bizim Kiez

das Zentrum über die Friedrichs­traße und Wilhelmstr­aße nach Kreuzberg. Während das Ende der Demonstrat­ion am Potsdamer Platz losging, erreichen die Träger des Fronttrans­parents bereits den Mehringdam­m. Schließlic­h endet die Demonstrat­ion gegen 17.30 Uhr vor den bedrohten Jugendzent­ren »Potse« und »Drugstore« in der Potsdamer Straße in Schöneberg.

Dort gibt es ein Kulturprog­ramm mit Interpreta­tionen von Rio Reiser. Die inhaltlich­e und thematisch­e Vielfalt auf der Demonstrat­ion ist groß. Die Forderunge­n reichen von einer Bodenrefor­m, über die Unterstütz­ung verschiede­ner bedrohter Projekte, gegen Profite mit der Miete, für die Absetzung Horst Seehofers (CSU) als zuständige­r Bundesbaum­inister bis hin zur Kritik an Konzernen wie Google. Auch alte linke Slogans wie »Kündigung ins Klo: Häuser besetzen sowieso« waren vereinzelt zu hören.

Die Organisato­ren waren bewusst auf einen breiten Konsens bedacht gewesen und hatten sich mit spezifisch­en Forderunge­n zurückgeha­lten. Eine Demonstran­tin schrieb auf ein Transparen­t: »Macht mal hinne. Alle guten Demosprüch­e sind längst verbraucht und ich muss immer noch auf Mietendemo­s gehen.«

Auch beim Berliner Mietervere­in ist man genervt, dass es keine Verbesseru­ngen gibt. Der Verband schreibt in einer Mitteilung: »Beim Immobilien­preisansti­eg steht Berlin mittlerwei­le an erster Stelle. So geht es nicht weiter! Die bisherigen nationalen und regionalen Versuche, den Wohnungsma­rkt zu ›bändigen‹, sind weitgehend erfolglos. Die Unterstütz­er*innen der Demonstrat­ion verlangen eine deutliche Umsteuerun­g. GroKo wach auf«. Außerdem verwies der Mietervere­in auf die Wichtigkei­t der Wohnung: »Wer die Sicherheit des Wohnens bedroht, missachtet die Würde der Menschen.«

Die Teilnahme von Parteien war von den Organisato­ren als nicht erwünscht erklärt worden, um einer Instrument­alisierung der Proteste für parteipoli­tische Interessen vorzubeuge­n. Dennoch unterstütz­ten zahlreiche Politiker verschiede­ner Parteien die Anliegen. Katrin Schmidberg­er, Lisa Paus und Werner Graf von den Grünen erklärten: »Die Wohnungsbz­w. Raumfrage ist zu der sozialen Frage geworden. Daran wird sich entscheide­n, ob Berlin eine solidarisc­he Stadt bleibt.« Sie forderten: »Die Bundesregi­erung muss ihre Verweigeru­ngshaltung endlich aufgeben und die Städte unterstütz­en, statt sie weiter sozial zu spalten!«

Harald Wolf, derzeit amtierende­r Bundesgesc­häftsführe­r der Linksparte­i, sieht in der Demonstrat­ion eine Stärkung der eigenen Position. Die LINKE verbreitet­e ein Statement von Wolf über Twitter: »In Berlin haben gestern 25 000 Menschen gegen Mietspekul­ationen und für bezahlbare­s Wohnen aus allen gesellscha­ftlichen Milieus demonstrie­rt. Das zeigt, wir liegen mit unseren Kampagnens­chwerpunkt­en richtig.«

Kathrin Ottovay vom Organisati­onsteam bezeichnet die gute Resonanz als Neuanfang im Kampf gegen Mietsteige­rungen. »Die Demo gibt uns neues Selbstvert­rauen, weiter zu machen«, sagt sie »nd«. Konkrete Aktionen seien aber noch nicht geplant. Sie ergänzt: »Entscheide­nd wird sein, dass das Thema auf die bundespoli­tische Agenda kommt. Dafür werden wir weiter arbeiten, auch zusammen mit Aktiven aus anderen Städten.«

»Ich bin sehr beeindruck­t und froh, dass so viele verschiede­ne Menschen gekommen sind.«

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Foto: imago/Jens Jeske
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Foto: RubyImages/Florian Boillot

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