Vom Coup zum Fiasko
Warum Chris Dercon an der Berliner Volksbühne scheitern musste.
Weniger als ein Jahr währte die Amtszeit von Chris Dercon an der Volksbühne. Die seit seiner Ernennung vor drei Jahren emotional geführte Debatte versteht nur, wer die Geschichte des Hauses kennt.
Gedankenspiele mit Außerirdischen bieten sich immer dann an, wenn sich etwas ganz und gar Absonderliches zuträgt, das in Gänze nur eingeweihte Kreise zu verstehen scheinen. Stellen wir uns also vor, es landeten Aliens irgendwo in Berlin-Mitte, sagen wir: auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Ihnen müsste sofort dieses Gebäude auffallen, das da vor ihren Augen thront: die Volksbühne. Nehmen wir an, die Extraterrestrischen wüssten um die großen Probleme der Menschheit: Armut, Krieg, Klimawandel.
Würde ihnen nun jemand erzählen, mit welcher Wucht in den vergangenen drei Jahren um dieses Theater gestritten wurde, sie wären fassungslos. Außerhalb der Hauptstadt und insbesondere jenseits der Kulturbetriebsblase sah sich beinahe jeder Kunstfreund zuletzt mit einer rhetorischen Frage konfrontiert: Habt ihr in Berlin keine andere Probleme? Das würden sicher auch die Aliens fragen. Um ihnen die Sache begreiflich zu machen, müssten die Erklärenden allerdings weit ausholen. Denn anders als bei anderen um- kämpften Theatern hängt die emotionale Debatte um die Volksbühne eng mit dem historischen Hintergrund des Hauses zusammen.
Wo sich heute kein Normalsterblicher mehr eine Wohnung leisten kann, da hauste einst das Elend. Rund um diesen ganz speziellen Ort in Berlin-Mitte, da befand sich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts das »Scheunenviertel«. Seinen Namen erhielt das Areal, weil es ursprünglich als Lagerstätte für Heu und Stroh angelegt worden war. Seit der Industrialisierung lebte hier der ärmste Teil des Proletariats. Lohnsklaven, Erwerbslose und Kranke wohnten auf engsten Raum. Die aus der Armut resultierende Kriminalität war hoch, es kam immer wieder zu Aufständen.
1902 entschieden sich die Stadtplaner für einen dreieckigen Kahlschlag, der eine riesige Brache hinterließ. Sie firmierte erst als Babelsberg-Platz. Nach vier Umbenennungen erhielt diese Stelle 1969 ihren bis heute gültigen Namen: Rosa-Luxemburg-Platz. Zu diesem Zeitpunkt stand dort längst ein Schauspielhaus, das 1914 als proletarisches Theater gegründet wurde. Berlins Polizeipräsident Traugott von Jagow hatte damals vom Verein der Freien Volksbühne gehört. Das war die erste kulturpolitische Massenorganisation der deutschen Arbeiterbewegung. Sie wollte ab 1890 benachteiligten Grup- pen einen Zugang zum kulturellen Leben ermöglichen, konnte aber kein eigenes Theater bauen.
Jagow, offenbar in Befriedungspolitik nach dem Vorbild Bismarcks geschult, fragte bei Kaiser Wilhelm II. an, ob er dem Verein nicht den Platz übereignen wolle. Wenn der Pöbel erst einmal sein eigenes Theater hat, so die Hoffnung, dann muckt er nicht mehr auf. Das leuchtete dem Monarchen ein. 1909 gründete der Verein der Freien Volksbühne einen Baufonds, in den die Mitglieder mit dem sogenannten Arbeitergroschen einbezahlten, der damals dem Gegenwert einer warmen Mahlzeit entsprach. So kamen nach einiger Zeit 2,5 Millionen Reichsmark zusammen.
Mithilfe eines zusätzlichen Kredits des Kaisers in Höhe von zwei Millionen Mark entstand 1914 ein Theater mit mahagonigetäfeltem Saal für 2000 Besucher. Über der Eingangspforte stand: »Die Kunst dem Volke«. Festredner zur Eröffnung war der Dramatiker Julius Bab. Er sagte, die Volksbühne sei das erste Theater auf deutschem Boden, »das nicht von einem wagemutigen Unternehmer, nicht von der Gunst eines Fürsten, noch von der väterlichen Gunst einer Behörde geschaffen, sondern von der kunstbedürftigen Menschengemeinschaft aus eigenen Mitteln und zu eigener Lust errichtet worden ist«.
Hans Albers, Heinrich George und Helene Weigel begannen hier ihre Schauspielkarrieren. Dieses Theater war von Beginn an auf das Neue, das Gigantische, das Vermessene aus. 1924 kam Erwin Piscator als Intendant und revolutionierte das Haus: Proletkult verband sich bei ihm mit multimedialen Inszenierungen, die mit riesigen Projektionsgrafiken und gewaltigen Filmbildern die Massen in die Volksbühne lockten. Wenige Jahre später zogen Kommunisten in ein ehemaliges Fabrikgebäude neben der Volksbühne – das Gebiet entwickelte sich zum Kulminationspunkt der politischen Großideen des 20. Jahrhunderts.
Als der Spielbetrieb nach dem Zweiten Weltkrieg 1950 in der DDR neu begann, da verabschiedete sich die Volksbühne in die Langeweile – bis 1969, als Benno Besson die Leitung übernahm. Er ließ Passanten bei Proben zusehen, öffnete das Haus für alle und etablierte ein Ensemble, das sich Freiheiten nahm wie im ganzen Land kein anderes Theater. Auch Heiner Müller, dessen zuvor verbotene Stücke an der Volksbühne gespielt wurden, kam als Regisseur ans Haus.
Es war dieses Fundament, auf dem Frank Castorf nach der Wende 1992 seine Intendanz aufbaute. »In zwei Jahren ist die Volksbühne tot oder berühmt«, lautete die Prophezeiung für seine Amtszeit. Mit Ausnahme einer längeren Durststrecke während der nuller Jahre wurde Castorfs Theater zum berühmtesten und beliebtesten in Deutschland.
Was die linke Subkultur für gentrifizierte Stadtviertel, das ist die Volksbühne für das konsumierbare Theater: Das Kreative, das Nicht-Verkäufliche und das Unbequeme, mit dem Castorf den gesamten deutschsprachigen Theaterraum stimuliert hat, lockte die Konsenskultur, das Marktgängige, das Gemütliche an, für das Chris Dercon steht. Dessen Vermarktlichung der Bühnenkunst passt zu Castorfs postmoderner Zertrümmerungswut eher als das Konzept des Agitprop, mit dem Piscator einst die angestauten Aggressionen seiner kapitalismusgeplagten Zuschauer in klare Bilder übersetzte, um klassenkämpferische Impulse zu erzeugen.
Gerade weil Frank Castorfs Achtstünder, René Polleschs Diskursabende und das Dada-Delirium des Herbert Fritsch solche Publikumsmagneten waren, kamen Verwertungslogiker wie Klaus Wowereit, Michael Müller und Tim Renner überhaupt erst auf die Idee, hier einen Neuanfang unter neoliberalen Vorzeichen einzuleiten – ohne festes Ensemble, dafür aber mit haltungsfreiem Spektakel. Sie haben die Renitenz der Angestammten unterschätzt. Und sie wollten nicht begreifen, dass Chris Dercon an fast jedem Theater dieser Republik sein Ding hätte machen können – nur nicht an der Volksbühne.
Verwertungslogiker wie Klaus Wowereit, Michael Müller und Tim Renner wollten nicht begreifen, dass Chris Dercon an fast jedem Theater dieser Republik sein Ding hätte machen können – nur nicht an der Volksbühne.