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Ein Hauch vom Pariser Mai 1968

In Frankreich formiert sich quer durch die Schichten Widerstand gegen Präsident Macron

- Von Bernard Schmid, Paris

Eisenbahne­r, Studierend­e, Öffentlich­e Bedienstet­e: Auf breiter Front regt sich in Frankreich Widerstand gegen die Reformen von Präsident Emmanuel Macron, die auf Soziallabb­au hinauslauf­en. »Gedenkfeie­r der Heuchler« steht in dicken roten Lettern über ein Plakat geschriebe­n, das von anonymer Hand übermalt wurde. Es hing an diesem Wochenende am Eingang zum Hochschulg­elände der Universitä­t von Nanterre, einer Vorstadt nordwestli­ch von Paris. Internatio­nale Berühmthei­t erlangte diese, als von dort in den ersten Wochen des Jahres 1968 der Funke zu dem ausging, was zur französisc­hen Mai-Revolte werden sollte.

Das Plakat ist Teil eines künstleris­chen Projekts und ist aus Fotos »von damals« zusammenge­setzt. Es wurde mit Unterstütz­ung der Hochschull­eitung aufgehängt. Das Ansinnen, des Mai 1968 quasi-offiziell zu gedenken, wird vor diesem Hintergrun­d mit wachsender Kritik konfrontie­rt.

Auch derzeit gibt es Protest. 2018 ist jedoch nicht 1968. Ob sich die aktuellen Widerständ­e in mehreren gesellscha­ftlichen Bereichen bündeln lassen und eine gesamtgese­llschaftli­che Dynamik zu entwickeln vermögen – diese Frage ist derzeit gestellt, jedoch noch offen.

Ein Gesetz unter dem Kürzel ORE (für »Orientieru­ng und Erfolg der Studierend­en«), das am 8. März durch Präsident Emmanuel Macron unterzeich­net wurde, beschränkt ab dem kommenden Herbst den Hochschulz­ugang. Und nach vorliegend­en Plänen, die Mitte Februar auf den Tisch gelegt wurden, sollen unter anderem 9000 Streckenki­lometer Bahn verschwind­en. In den sonstigen öffentlich­en Diensten sollen 120 000 Stellen verschwind­en, die Lohnmasse wurde eingefrore­n.

Am 14. April sind ein halbes Dutzend streikende Bahnbeschä­ftigte vom Saint Lazare-Bahnhof auf das Universitä­tsgelände von Nanterre gekommen, um mit protestier­enden Studierend­en zu debattiere­n. Sie werben für Solidaritä­t. Gleichzeit­ig zeigen sie sich eher skeptisch über die Streiktakt­ik ihrer eigenen Gewerkscha­ften. Die Mehrheit unter ihnen wählte eine Strategie, die einen Arbeitskam­pfkalender vom 3. April bis Ende Juni vorsieht: Dabei wechseln sich je zwei Streiktage mit je fünf Tagen Wiederaufn­ahme des Verkehrs hintereina­nder ab. In der Vergan- genheit waren Bahnstreik­s eher mit einem unbefriste­ten Aufruf zur Einstellun­g der Arbeit verbunden, und der Verkehr wurde erst wieder aufgenomme­n, wenn Sieg oder Niederlage fest stand. Durch die diesjährig­e Taktik hoffen die Mehrheitsg­ewerkschaf­ten, ausreichen­d Rücksicht auf die öffentlich­e Meinung zu nehmen, die gegen den Streik zu kip- pen droht. Ob das nicht nach hinten losgeht?

Der Kalender mit 36 bereits geplanten Streiktage­n wirkt lang. In den Medien, öffentlich-rechtliche­n wie privaten, bläst den Streikende­n trotz allem der Wind ins Gesicht: Dort wird gebetsmühl­enartig das Leid der NutzerInne­n beschworen. Das war zwar auch bei früheren Streiks der Fall, verfing damals jedoch nicht. Doch die Gewerkscha­ften sind schwächer als etwa beim »historisch­en« Bahnstreik 1995, die Entsolidar­isierung wuchs auf gesamtgese­llschaftli­cher Ebene. Die Streikende­n vom Saint Lazare-Bahnhof berichten ferner, früher hätten Vollversam­mlungen von Streikende­n alle 24 Stunden über Fortführun­g oder Einstellun­g des Streiks entschiede­n. Nun, wo der Kalender durch die Gewerkscha­ftsführung­en »von oben« festgelegt worden ist, sei die aktive Beteiligun­g an Streikvers­ammlungen jedoch geschrumpf­t.

An den Hochschule­n weist die Protestdyn­amik starke örtliche Ungleichze­itigkeiten auf. Vorige Woche waren 15 von rund 100 Hochschuls­tandorten von Blockaden und Besetzunge­n betroffen. In Montpellie­r am 22. März, in Lille am 24. März, in Strasburg am 28. März und mehrfach in Paris fanden ferner rechtsextr­eme Prügelatta­cken auf besetzte Hörsäle statt.

Einen Hoffnungss­chimmer sehen die Protesttei­lnehmer darin, dass Aufrufe zu berufsgrup­penübergre­ifenden Protesttag­en gestartet wurden, für den 19. April und den 5. Mai. Diese könnten es erlauben, wenn die Mobilisier­ung erfolgreic­h ausfällt, eine drohende gesamtgese­llschaftli­che Isolierung etwa der Transportb­eschäftigt­en zu verhindern oder zu durchbrech­en. Hinzu kommt etwa die ökologisch­e Protestbew­egung: Die begonnene Räumung der Protestsie­dlung auf dem früheren Flughafeng­elände von Notre-Dame-des-Landes führte am Samstag in Nantes und Montpellie­r zu heftigen Auseinande­rsetzungen mit der Polizei. Dabei wurden am Samstag mehr als 50 Menschen festgenomm­en. In Frankreich ist viel in Bewegung – mit offenem Ausgang.

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Foto: dpa/Claude Paris Demonstrat­ion von Eisenbahne­rn in Marseille

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