Mamsell Ente und Gevatter Schwan
Die Eigenheit der Künstler und eine bestimmte Art, gegen den Strom zu schwimmen.
»Ich kenne kein anderes Land, in dem so angestrengt, verzweifelt, ja fanatisch nach dem moralisch Richtigen gestrebt wird.« Eva Menasse
Elektrisiert ist diese Zeit nicht, auch wenn die mediale Öffentlichkeit regelmäßig wie unter Stromstößen agiert. Wenn schon der Stromvergleich, dann doch höchstens Kriechstrom. Der offenbar ausreicht, damit sich jeder Beteiligte am stärker werdenden Gesinnungstauziehen moralpflichtig gereizt fühlen und sich also in Bewegung wähnen darf. Die Lage? Alle Parteien langweilen durch die Bank, auf der die Regierung döst. Links zerfleischt sich nach Kräften. Die Mitte simuliert im eigenen Vakuum Luftzufuhr. Und von rechts außen hörte man den entlarvenden Satz: »Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.« Als hätte beides je diesem Manne gehört, der fantasiert, er heiße Alexander Deutschland und müsse sich Gauland zurückholen.
Die politische Krux verführt längst nicht mehr zu geistvollen und gemeinschaftsstiftenden Verbesserungsvorschlägen (denn: alles schon gedacht, alles schon ausgebeult), sondern offenbar nur noch zu gereizten Gegenschlägen, die für jeden Anlass dankbar sind. Und da inmitten und in Schüben: Streit um das Meinungsgewicht von Intellektuellen und Künstlern. Gern jagen neuerdings Erklärungen und Gegenerklärungen einander – wer bietet die prominenteren Prominenten auf? »Man will recht haben und behalten, das können die deutschen Linken natürlich mindestens ebensogut wie die Rechten. Ich kenne kein anderes Land, in dem so angestrengt, verzweifelt, ja fanatisch nach dem moralisch Richtigen gestrebt wird.« So die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse. Kaum einer hat jenes Gemüt, wie es der Dichter Gerhard Gundermann ausmalte: »Gegen den Strom schwimmen? Ja. Aber wenn möglich, nicht verbissen – eher munter wie Mamsell Ente und gelassen wie Gevatter Schwan.«
Die Höchstform der Wachrüttelroutine besteht in der Beschwörung, es sei wieder ein Heinrich Böll oder ein Günter Grass vonnöten. Aber welcher Kraft sollte der sich denn heutzutage zugesellen, gar voranstellen? Intellektuelle Widerstandskultur in modernen politischen Strukturen gibt es offenkundig nur noch als nostalgisches Gedächtniszeichen (hört in den Archiven, wie Sartre redet oder Peymann poltert – unter den Pflastersteinen aber kein Strand mehr, nur Gräber) oder als närrische Ich-AG. Der Rest ist Fernsehen, also die erfolgreich-rigide Vertreibung von Problemdebatten durch Serie und Werbung. Deren Untergrund ist ein totalitärer Anspruch: Alles wird mit uns besser. Das sagen verkreidete Schwarze, graue Grüne, blasse Rote. Keiner weiß aber wirklich, wie und wohin.
Wo Politiker aller Parteien aber nun der berufsbedingten Versuchung erliegen, sich noch immer für Anwälte umfassender Lösungen zu halten, wo sie sich auf Worte wie kompromisslos, konsequent, unbeirrbar versteifen, wo sie selbst noch in ihrem Gefilde sinkender Wählerprozente unbändige Siegeszuversicht ausstrahlen und gleichsam im freien Fall die beste Figur versuchen wollen – dort lauert in Bevölkerungen das modernste der Verhängnisse: die Ernüchterung. Die freilich alle nur mögliche Politik mit einer heilsamen Wahrheit tränkt: der Einsicht in die Brüchigkeit und Begrenztheit all unserer Handlungen und unserer Existenz. Das Pfeifen im Walde wird allerdings nicht mobilisierender, wenn man die »Internationale« pfeift.
Dass in uns Sehnsucht trotzt und danach drängt, all das Dröge, Dämpfende der Verhältnisse möge sich wahrlich auflösen, also aufklären, ist schöne Bestätigung unseres Triebs, Erfahrungssperren zu durchbrechen. Dennoch möge es zum Kodex gesell- schaftlichen Umgangs miteinander gehören, mit größeren Sehnsüchten nicht mehr allzu pathetisch zu spielen. Praktizierte Demokratie wird mehr und mehr langweilen, weil sie aus einer Bevölkerung doch allerhöchstens ein Kompetenzteam der minimalistischsten Reformschritte macht. Allerhöchstens! Langweile ist Not, aber auch Tugend. Wie jeder Frieden. Welch Paradoxon: Die globale Welt führt zusammen – und gleichzeitig zum Zersplittern vieler (sozialer) Beziehungsgefüge. International gnadenlose Monopolisierung verbindet Millionen in Abhängigkeit – aber schafft nicht einen neuen dynamischen Rebellionsbund, sondern Heere von Einsamen oder eine gefährliche »Internationale des Hasses« (Baudrillard). Alles weit entfernt von Brechts demagogischster Einflüsterung: »Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein/.../ Und aus Niemals wird heute noch!« Langsam, langsam, möchte man mahnen.
Wo wäre denn heute der staatlich gesicherte Zeithorizont, der es Regierungen ermöglichte, wirklich langfristig zu entscheiden? In einer Welt, darin der Mensch in der Revolte weiter die Ausnahme bleibt. In einer Welt, in der jeder tagtäglich mehr hinnimmt, als für ihn gut wäre. Es obwaltet ein politischer Alltag, der ohne Propheten und ohne Flügelschwingen auskommt. Wieder: Not und Tugend zugleich. Politik wird sich mehr und mehr von einem Realismus bewegt wissen, dessen Erfolg an ein absurdes Kriterium gebunden ist: zuvörderst jenen Depressionen standzuhalten, die durch das eingeschränkte Handeln von Politik größtenteils erst hervorgerufen werden.
Aus diesem Grunde werden es große Gedanken für eine Weile schwer haben im öffentlichen Raum. Wer möchte nicht daran glauben, dass Glück doch eine gesellschaftli- che Kategorie sei? Aber sie ist es nicht, und das Glücksversprechen, in welcher Variante auch immer, gehört nicht in die Politik. Und fordert nicht automatisch den Künstler, der außerhalb seines Werkes zum politischen Meinungsträger werden möge. Auch er ist gebranntes Kind. Romancier Christoph Ransmayr warnt: »Schriftsteller sind vor Fehleinschätzungen nicht besser geschützt als ein Abteilungsleiter im Supermarkt oder ein Optiker, der beiden die Brillen repariert.«
Dem wahren Künstler sind das binäre Denken und die symmetrische Logik fremd. Seine Einsichten gehen anders, sie wissen um den Adel der Ohnmacht. »Die Freiheit folgt uns nicht auf den Versen«, schrieb Volker Braun. Mag sein, dass Politiker auftreten, als bräuchten wir sie mehr, als wir uns selber brauchen – Dichter jedoch lese ich, um wieder im Gefühl gestärkt zu werden: Ich brauche vor allem mich selber. Politiker reden widerspruchsfreier, als man sich das wünschen darf. Kunst stärkt den Mut, anderen nur jene Vorwürfe zu machen, die man an sich selber ausprobiert hat. Künstler bleiben Streifzügler in den Nachtseiten der scheinbar aufgeklärten Gesellschaft, bleiben Erspürer des Verdrängten und Verpönten, das der Diskursjargon nicht wahrhaben will.
Das größte Gut des Künstlers ist das, was uns halbtalentierten Medienprofis aus Geschäftsgründen fremd zu sein hat: die Verletzlichkeit. Der Künstler, speziell der Schriftsteller, ist doch meistens ein komischer Kauz in stiller Kammer, er verweigert sich dem absurden Postulat einer gesinnungseifrigen Schwarmintelligenz. Er nimmt sich Zeit für seltsame, altmodische Gedanken. Die Stimme erheben? Das ist kämpferisches Erbe, ja, aber es ist eben auch zweifelhaft geworden in einer Zeit, da die Devise zu sein scheint: allen zuhören, aber keinem alles glauben. In der Vielfalt der Möglichkeiten, sich der Wirklichkeit zu stellen und damit eine Gesellschaft zu organisieren, wird eine Varianzbreite deutlich, vor der jedes Rezept, jedes Dogma zerbröselt. Auch das bestgemeinte.
Wenn der Künstler sich hinauswagt ins Medienrauschen, fällt er aus seiner angestammten Rolle, und dies ist manchem Autor immer mal wieder zum Verhängnis geworden – weil man sich an einen wohlformulierten Misston noch nach Jahren erinnert, während die Sprachhülsen von uns Dauerhechlern, von uns folgenlosen Spöttern und Rezepthändlern täglich von den nächsten Schnellsch(l)üssen übertönt werden. Es ist ein bezeichnendes Indiz für nachwachsende Plumpheit, dass just Kritiker von Uwe Tellkamps missratener Äußerung zu Flüchtlingen ihre Ablehnung unaufgefordert mit der Fußnote versahen, na ja, seinen Roman »Der Turm« habe man eh nach hundert Seiten weggelegt.
Künstler sind Künstler durch Kunst. Im Rest ihrer Existenz sind sie wie alle. Und wahre, große Kunst selber ist weder links noch rechts. Wo Kunst für links oder rechts benutzt wird, muss man – und sei alles noch so gut gemeint – einen Missbrauch befürchten. Die reale Welt lässt, zu allen Zeiten, denjenigen am meisten verwildern, der am besten ausgerüstet ist, die jeweils herrschende Welt zu bestehen. Aber man soll die Hoffnung freilich nicht aufgeben und nicht die Vorstellung von den ganz anderen Zuständen. Die dann erreicht sind, »wenn Läst’rung nicht auf Zungen wohnt, / Der Gauner des Nächsten Beutel schont, /Wenn die Wuch’rer ihr Gold im Felde beschaun, / Und Huren und Kuppler Kirchen baun.« Heißt es bei Shakespeare. Er lässt diese Prophezeiung im »Lear« natürlich nicht den König sagen, sondern den Narren.