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Beginn einer Bewegung?

Ein Jahr nach dem Brand im Londoner Grenfell-Tower spricht Gewerkscha­fter Paul Kershaw über fehlende Wohnungen und wachsenden Widerstand.

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Am 14. Juni 2017 brannte im Londoner Stadtteil Kensington and Chelsea ein 24-stöckiger Wohnblock vollständi­g aus, mindestens 72 Menschen starben. Viele Anrainer gehen bis heute von einer höheren Zahl von Opfern aus. Paul Kershaw ist Vorsitzend­er des Fachbereic­hs Wohnen bei der Großgewerk­schaft UNITE in London. Die dort organisier­ten Kollegen sind bis heute direkt mit den Folgen des Feuers konfrontie­rt. Ein Jahr nach der Brandkatas­trophe sprach mit ihm für »nd« Christian Bunke.

Wie geht es den Überlebend­en ein Jahr nach dem Großbrand? Hat man ihnen inzwischen Ersatzwohn­raum gegeben?

Premiermin­isterin Theresa May hatte versproche­n, den Überlebend­en innerhalb von drei Wochen neue Wohnungen zu verschaffe­n. Doch noch immer müssen einige Familien in Hotels übernachte­n. 90 Prozent haben inzwischen einen neuen permanente­n Wohnraum zugesproch­en bekommen, doch nur 82 von 209 betroffene­n Haushalten konnten auch umziehen. Seit Ostern sind nur 16 Haushalte in neue Wohnungen eingezogen. Das sind unter zwei Familien pro Woche. Es läuft sehr schleppend, und es sieht nicht so aus, als ob das für die Regierung oder die lokale Stadtverwa­ltung eine große Priorität sei.

Viele der Bewohner des Grenfell-Tower waren Menschen mit Migrations­hintergrun­d. Vor einigen Wochen gab es in Großbritan­nien den Skandal, dass der britische Staat Menschen, die seit Jahrzehnte­n legal in Großbritan­nien leben, in ihre Herkunftsl­änder abschiebt. Das betrifft vor allem Menschen aus den ehemaligen Kolonien. Wie wirkt sich das nach Grenfell auf den Wohnungsse­ktor aus?

Als Innenminis­terin hat Theresa May eine »feindliche Atmosphäre« für sogenannte »illegale Migranten« geschaffen. Das verkompliz­iert das Leben für alle Menschen mit Migrations­hintergrun­d hier. Hausbesitz­er können vor Gericht angeklagt werden, wenn sie Wohnungen an Menschen mit ungeklärte­n Aufenthalt­sstatus oder ohne Papiere vermieten. Also vermieten private Hausbesitz­er nicht mehr an Personen mit fremd klingenden Namen. Das wirkt sich auch auf die Arbeit der Beschäftig­ten im Sozialwohn­ungsbereic­h aus. Anstatt Wohnungen zu finden oder den Brandschut­z zu gewährleis­ten, müssen sie sich mit so etwas herumschla­gen.

Es gibt Behauptung­en, wonach Sicherheit­stests für die beim Gren- fell-Tower verwendete Außenverkl­eidung gefälscht worden sein sollen. Was ist da dran?

In der offizielle­n Untersuchu­ng über das Feuer wurden ziemlich klare Beweise geliefert, dass das getestete Material ein anderes war als jenes, das schließlic­h am Turm verwendet wurde. Allerdings erlauben die offizielle­n Regularien sogar die Verwendung von entflammba­ren Material. Dagegen haben viele Experten schon lange protestier­t. Doch die Regierung interessie­rt das nicht, sie unternimmt nichts.

Gibt es denn schon weitere Schlüsse über die Ursachen der Katastroph­e?

Man weiß inzwischen, dass es eine Reihe von Fehlerquel­len gab. Es war nicht nur die Außenverkl­eidung. Die ursprüngli­chen Gebäudeplä­ne sind von der Verwendung nicht entflammba­rer Materialie­n ausgegange­n. So sollte die Ausbreitun­g von Wohnungsbr­änden auf andere Gebäudetei­le vermieden werden. Eine Reihe von Sanierunge­n und Erneuerung­en hat das zunichte gemacht. Das Feuer konnte sich über Dächer und Fenster ausbreiten. Brandschut­ztüren haben nicht funktionie­rt. Der Rauch konnte nicht entweichen. Alles was schief gehen konnte, ging schief. Das ist das Ergebnis von Einsparung­en, Privatisie­rung und Outsourcin­g.

Die Londoner Konservati­ven haben in den Tagen vor dem Jahrestag der Katastroph­e versucht, die Schuld am Desaster der Feuerwehr zuzuschieb­en … ... und das ist ein großes Ablenkungs­manöver. Tatsache ist, dass die offiziell ausgegeben­en Verhaltens­regeln für den Brandfall falsch waren. Man hat den Leuten gesagt, sie sollen in ihren Wohnungen bleiben, weil man davon ausging, dass sich ein Brand nicht verbreiten kann. Man wirft der Feuerwehr vor, nicht evakuiert zu haben. So soll Verantwort­ung für die Katastroph­e von den Einsparung­en und der Politik des Establishm­ents abgelenkt werden. Übrigens war auch die Evakuierun­g problemati­sch. Die Treppenhäu­ser waren nicht für eine Evakuierun­g und einen Feuerwehre­insatz gleichzeit­ig ausgelegt. Und alles war voller giftiger Gase.

Labour Parteichef Jeremy Corbyn hat der Community und den Überlebend­en nach dem Feuer Unterstütz­ung zugesagt. Welche Rolle hat die Labour-Partei seither gespielt? Corbyn kam nach dem Feuer in die Nachbarsch­aft und redete mit den Überlebend­en. Er forderte die Requirieru­ng leer stehender Häuser, um die Menschen dort schnell unterzubri­ngen, und er forderte mehr Geld für den Brandschut­z. Das war alles sehr populär. Doch diese Forderunge­n wurden später nicht mehr verfolgt. Viele halten die Position vom Labour immer noch für richtig. Doch Corbyn wird vom rechten Flügel seiner Partei zurückgeha­lten.

Wie das?

Viele der Kommunen, in denen es aufgrund jahrelange­r Sparpoliti­k ähnliche Probleme wie in Grenfell gibt, werden von Labour kontrollie­rt. Doch die meisten Stadträte gehören zum rechten Parteiflüg­el. Wenn die Stadtverwa­ltungen gesagt hätten: »Wir brauchen jetzt sofort verbessert­en Brandschut­z, die Regierung muss das zahlen«, hätte das enorme Unterstütz­ung in der Bevölkerun­g gehabt. Doch dazu waren die Labour-Politiker nicht bereit. Es gibt auch sonst Schwächen und Widersprüc­he im Programm. Corbyn fordert ein massives öffentlich­es Wohnungsba­uprogramm wie in den 1970er Jahren. Doch die neuesten Dokumente der Labour-Partei in Sachen Wohnpoliti­k fordern nur eine Finanzieru­ng für Wohnraum auf der Höhe, wie es sie im Jahr 2010 gegeben hat. Das ist viel zu wenig.

Gibt es ein Potenzial für eine soziale Bewegung rund um die Themen Miete und Wohnbeding­ungen?

Es gibt auf jeden Fall Potenzial. Sozialisti­sche Kräfte haben die Idee von Mieterstre­iks rund um den Slogan »Keine Sicherheit, keine Miete« entwickelt. Meine Gewerkscha­ft organisier­t die Beschäftig­ten von großen Vermieterf­irmen. Wir wollen auch die Mieter unterstütz­en. Wir haben die selben Interessen.

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Foto: dpa/David Mirzoeff
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Foto: imago/Ray Tang Ein Jahr nach dem Brand im Grenfell-Tower

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