Die Hauptstadt des Fußballs
In Bell Ville werden Bälle produziert, doch die Argentinier fürchten Chinas Konkurrenz
In einer argentinischen Kleinstadt wurde vor 87 Jahren der Fußball revolutioniert. WM-Bälle basierten jahrzehntelang auf hiesigen Erfindungen. Doch heute wird der Markt von Billigprodukten dominiert. Die schwarz-weiße Kugel rotiert zwischen Fernando Fuglinis Händen. »Das ist ein absolutes High-Tech-Produkt«, sagt der Argentinier, der wahrscheinlich mehr von Fußbällen versteht als sein Landsmann Lionel Messi. »In dem hier steckt ein Chip zum Messen der Geschwindigkeit. Er zeigt auch an, ob der Ball die Torlinie überschritten hat. Ein wunderbarer Ball«, schwärmt er vom offiziellen Spielgerät der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. Thermogeschweißt, nicht genäht. Allerdings: Made in China.
15 Dollar kostet dort die Herstellung des »Telstar 18«. Das ist viel mehr als die sonstige Massenware, mit denen das Reich der Mitte die Bolzplätze aller Welt überschüttet. Mehr als 30 chinesische Modelle würden in der Produktion weniger als fünf Dollar kosten, sagt Fuglini. Er kennt die Kostenstruktur, denn er muss dagegen ankämpfen. Ein fast unmögliches Unterfangen, selbst in einem Land wie Argentinien, das den Fußball zur Staatsreligion erhoben hat. »Dale Mas« heißt die Firma der Gebrüder Germán und Fernando Fuglini – »Gib noch mehr!«
Die RN9 ist eine Asphaltschneise durchs grüne Nichts. Zwischen Rosario und Córdoba kreuzt die weitgehend ebenerdige Autobahn Felder: Mais, Weizen, vor allem Soja. Die Ackerprovinzen Santa Fe und Córdoba sind Argentiniens reichhaltigste Kornkammer, erschlossen vor einem Jahrhundert, heute in Sachen Technik und Produktivität an der Weltspitze. Mit seinen reichen Feldern und der mittelständischen Industrie gilt Córdoba als das Herz Argentiniens. Und Bell Ville ist das Fußballherz.
Zur »Capital Nacional de la Pelota de Fútbol« adelte Argentiniens Kongress vor einem Jahr die 42 000-Einwohner-Gemeinde etwa 550 Kilometer westlich von Buenos Aires. 500 000 Fußbälle werden alljährlich hier produziert. Knapp 15 solcher Betriebe hätten ihre Heimat in der Stadt, schätzt Fernando Fuglini, in den umliegenden Orten gebe es noch 20 weitere Hersteller. Dale Mas fabriziert 35 000 Bälle pro Jahr und ist damit der größte Hersteller der »nationalen Fußball-Hauptstadt«.
Schon als Kinder werkelten der heute 55-jährige Fernando und sein fünf Jahre jüngerer Bruder Germán in der Firma, die Vater Roberto 1965 in drei alten Schuppen eingerichtet hatte. Fernando denkt etwas nostalgisch an diese Zeit mit 60 Angestellten und rund 500 NäherInnen. »Wir machten 10 000 Bälle in nur einem Monat«, sagt er. Mit 18 reiste er Anfang der 1980er Jahre nach Buenos Aires zu den großen Sportartikelgeschäften. Auf dem Bestellzettel fixierten sie nur die Preise, nie die Menge. »Die Einkäufer sagten nur: ›Bring mir Fußbälle, ich sage dir, wann es genug ist.‹«
1985 herrschte Hyperinflation. An manchen Tag gaben die Fuglinis morgens, mittags und abends neue Preislisten heraus. Zeitgleich wurden mit zwei Telefonen Verkauf und Einkauf organisiert. »Am einen Ohr verkauften wir 100 Bälle, am anderen kauften wir das Material für die nächsten 100«, erzählt Germán.
Als der neoliberale Präsident Carlos Menem in den 90ern Argentinien für Importe öffnete, wurde zwar noch eine zweijährige Importsteuer auf Fußbälle vereinbart. Dennoch ging in der allgemeinen Rezession der Verkauf zurück. Erst nach der Drosselung der Importe durch die KirchnerRegierungen wurde der Niedergang verlangsamt. An die alten Verkaufszahlen kommt die Branche aber nicht mehr heran. Vor allem wegen der billigen Konkurrenz aus Asien.
Präsident Mauricio Macri senkt seit gut zwei Jahren die Importschranken wieder, und so rollen die Bälle aus Fernost unaufhaltsam ins Land. Das Paradebeispiel lieferte vor wenigen Monaten ausgerechnet der staatliche Ölkonzern YPF. Wer an dessen Zapfsäulen seinen Tank gut füllt, kann für noch mal 250 Peso (etwa acht Euro) einen Fußball dazukaufen. Dafür importierte der Konzern 1,2 Millionen Bälle aus China. Zwar hätten Hersteller aus Bell Ville mit dem YPF-Chef verhandelt, dem sei es aber nur um den billigsten Preis gegangen und nicht um die hiesigen kleinen Unternehmen. »Jeder Ball kostet YPF im Einkauf nur 70 Peso«, sagt Fuglini.
Der WM-Ball, jener Telstar 18, ist für einen gepflegten Rasen in hochmodernen Stadien geeignet und nichts für Fußballplätze, die von rostigen Zäunen und rauen Betonmauern umgeben sind. »Einmal richtig dagegen geballert, ist die Luft raus«, sagt Germán Fuglini. »Billigbälle machen noch schneller schlapp.« Dennoch werden in Argentiniens Sportgeschäften nur noch Importbälle verkauft. Dale Mas setze auf Qualität und verkauft direkt. 90 Prozent gehen an Stadtteilklubs und Vereine in den unteren Ligen. »Die wissen, dass unsere Fußbälle mehr hergeben,« sagt Fernando Fuglini.
Das Stadion von Club Atlético Talleres de Bell Ville hat so einen holprigen Rasen, eingezäunt von Maschendraht und Betonplatten. Einsam steht das übergroße Vereinswappen in Blau und Rot hinter dem rechten Tor. 1926 gegründet, kickt die erste Mannschaft heute in der regionalen Liga Bellvillense de Fútbol. Nichts deutet darauf hin, dass der berühmteste Fußballsohn der Stadt hier seine ersten Treffer markierte. Im Trikot von Talleres startete Mario Kempes seine Karriere, deren Höhepunkt die WM 1978 im eigenen Land werden sollte. Mit sechs Treffern, davon zwei im gewonnenen Endspiel gegen die Niederländer, wurde »El Matador« Kempes zum besten Torschützen. »Mario ist ein Freund der Familie«, sagt Fernando Fuglini, in dessen Büro ein großes Foto hängt, auf dem der Stürmerstar den TT 48 in den Händen hält. »La Perfecta«, wird der aus 48 Lederteilen genähte Ball bei Dale Mas genannt. Mehr als 100 Tore habe Kempes damit erzielt. Heute gibt es fast nur noch Kunststoffbälle.
Bei der ersten WM 1930 in Uruguay wurde noch an Lederpillen getreten, in die eine Luftblase lose verstaut und die mit einem Lederriemen zugezogen worden war. Viele Spieler trugen Mützen, um sich bei Kopfbällen vor Verletzungen durch den Riemen zu schützen. Vor dem Finale konnten sich Uruguays und Argenti- niens Spieler nicht einigen, mit welchem Ball gespielt werden sollte. Also wurde in der ersten Halbzeit einem argentinischen Ball (Halbzeitstand 2:0 für die Argentinier) und in der zweiten einem aus Uruguay hinterhergejagt. Angeblich deshalb gewann Uruguay noch 4:2.
Das hörten drei Männer in Bell Ville im Radio. Frustriert von der Niederlage, erfanden Luis Polo, Antonio Tosolini and Juan Valbonesi den Fußball neu. Sie tüftelten an einem nach innen gerichteten Ventil. Damit konnten sie die Luftblase einsetzen, am Leder festkleben und den Riemen durch eine kaum sichtbare Ventilöffnung ersetzen. Patentiert und produziert, trat der »Superball« 1931 aus Bell Ville seinen Siegeszug um die Welt an. Ab 1938 wurden Bälle dieser Art jahrzehntelang auch für WMTurniere genutzt.
Das Geheimnis eines guten Balls liegt also in seinem Inneren. Kreuz und quer werden bei Dale Mas dünne Nylonfäden mit rasender Geschwindigkeit auf einer rotierenden Fassrolle versponnen. Der beißende Geruch von Latex liegt in der Luft. Das Gespinst wird dann mit Latex verklebt. Einmal getrocknet, ist es unzerreißbar. »Das macht den Ball stabil, reißfest und gibt ihm einem guten Auf- und Abprall«, sagt Germán Fuglini.
Wumpf, wumpf, wumpf. Monoton verkündet die kleine Stanzmaschine den einzigen technischen Fortschritt hier. In den alten Schuppen hat sich sonst nichts verändert. Eine Stimme aus dem verstaubten Transistorradio verbreitet Vorfreude auf die WM in Russland und stoppt mit einer Schreckensmeldung: Torwart Sergio Romero habe sich verletzt und fällt aus. »Auch das noch«, seufzt Ernesto Carnero, beugt sich über seinen Arbeitstisch und verstreicht Klebstoff über ein Flies aus Polyurethan. Ein alter Ventilator verweht die giftigen Dämpfe. »Für uns ist die WM in Russland auch so schon gelaufen«, sagt er. Seit 20 Jahren arbeitet der kauzige Alte bei Dale Mas. Vor jeder WM hätten sie viele Bälle verkauft, erzählt er. Nachfrageboom wegen Russland 2018? »Nicht bei uns«, winkt er ab.
Dreimal in der Woche ist bei Dale Mas Annahme. Dann kommen die NäherInnen, bringen die zusammengenähten Fußbälle und nehmen Einzelteile für die nächsten mit. Marie Turra bringt gerade fünf Bälle vorbei. Knapp drei Stunden hat die 28Jährige an jedem genäht. 70 Peso bekommt sie pro Stück, ein Zubrot zum Familieneinkommen, nicht mehr. »Hier bezahlen sie noch am besten, bei den anderen gibt es nur 55 oder 60 Peso.« Sie steckt die neuen Materialien in die Tasche und geht.
90 Prozent der NäherInnen sind Frauen. Männer kommen nur, wenn auf dem Bau oder in der Landwirtschaft Flaute ist. Niemand hat einen Vertrag. Ohne die unversicherte Heimarbeit gäbe es in Bell Ville keine Fußballproduktion. »Müssten wir den NäherInnen Sozialleistungen zahlen, wäre die Produktion zu Ende«, gesteht Firmenchef Fernando Fuglini.
Mit seinem schachbrettartigen Grundriss ist Bell Ville eine typische argentinische Stadt. Flache Häuser säumen die Straßen, auch um die zentrale Plaza 25 de Mayo. Vor dem Rathaus steht dort das Monument für den »Superball«. Im Rathaus regiert Carlos Briner, und der 49-Jährige hat ein Problem. Als Mitglied der radikalen Bürgerunion UCR ist er Teil der Regierungskoalition von Präsident Macri. Im Wahlkampf hatte dieser versprochen, die weiterverarbeitende Industrie zu stärken: Argentinien müsse sich vom Rohstofflieferanten in einen Supermarkt für veredelte Produkte verwandeln. In der Provinz hörten sie das gern. Die entscheidenden Stimmen für Macris Sieg 2015 kamen aus Córdoba. Zwar unterstütze er weiter rückhaltlos den Präsidenten, so der Bürgermeister, aber in Sachen Handel hadert auch Briner mit ihm. »Anstatt lokal nach Verbesserungen zu suchen, wird nur noch im Ausland gekauft.«