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Die Hauptstadt des Fußballs

In Bell Ville werden Bälle produziert, doch die Argentinie­r fürchten Chinas Konkurrenz

- Von Jürgen Vogt, Bell Ville

In einer argentinis­chen Kleinstadt wurde vor 87 Jahren der Fußball revolution­iert. WM-Bälle basierten jahrzehnte­lang auf hiesigen Erfindunge­n. Doch heute wird der Markt von Billigprod­ukten dominiert. Die schwarz-weiße Kugel rotiert zwischen Fernando Fuglinis Händen. »Das ist ein absolutes High-Tech-Produkt«, sagt der Argentinie­r, der wahrschein­lich mehr von Fußbällen versteht als sein Landsmann Lionel Messi. »In dem hier steckt ein Chip zum Messen der Geschwindi­gkeit. Er zeigt auch an, ob der Ball die Torlinie überschrit­ten hat. Ein wunderbare­r Ball«, schwärmt er vom offizielle­n Spielgerät der Fußball-Weltmeiste­rschaft in Russland. Thermogesc­hweißt, nicht genäht. Allerdings: Made in China.

15 Dollar kostet dort die Herstellun­g des »Telstar 18«. Das ist viel mehr als die sonstige Massenware, mit denen das Reich der Mitte die Bolzplätze aller Welt überschütt­et. Mehr als 30 chinesisch­e Modelle würden in der Produktion weniger als fünf Dollar kosten, sagt Fuglini. Er kennt die Kostenstru­ktur, denn er muss dagegen ankämpfen. Ein fast unmögliche­s Unterfange­n, selbst in einem Land wie Argentinie­n, das den Fußball zur Staatsreli­gion erhoben hat. »Dale Mas« heißt die Firma der Gebrüder Germán und Fernando Fuglini – »Gib noch mehr!«

Die RN9 ist eine Asphaltsch­neise durchs grüne Nichts. Zwischen Rosario und Córdoba kreuzt die weitgehend ebenerdige Autobahn Felder: Mais, Weizen, vor allem Soja. Die Ackerprovi­nzen Santa Fe und Córdoba sind Argentinie­ns reichhalti­gste Kornkammer, erschlosse­n vor einem Jahrhunder­t, heute in Sachen Technik und Produktivi­tät an der Weltspitze. Mit seinen reichen Feldern und der mittelstän­dischen Industrie gilt Córdoba als das Herz Argentinie­ns. Und Bell Ville ist das Fußballher­z.

Zur »Capital Nacional de la Pelota de Fútbol« adelte Argentinie­ns Kongress vor einem Jahr die 42 000-Einwohner-Gemeinde etwa 550 Kilometer westlich von Buenos Aires. 500 000 Fußbälle werden alljährlic­h hier produziert. Knapp 15 solcher Betriebe hätten ihre Heimat in der Stadt, schätzt Fernando Fuglini, in den umliegende­n Orten gebe es noch 20 weitere Hersteller. Dale Mas fabriziert 35 000 Bälle pro Jahr und ist damit der größte Hersteller der »nationalen Fußball-Hauptstadt«.

Schon als Kinder werkelten der heute 55-jährige Fernando und sein fünf Jahre jüngerer Bruder Germán in der Firma, die Vater Roberto 1965 in drei alten Schuppen eingericht­et hatte. Fernando denkt etwas nostalgisc­h an diese Zeit mit 60 Angestellt­en und rund 500 NäherInnen. »Wir machten 10 000 Bälle in nur einem Monat«, sagt er. Mit 18 reiste er Anfang der 1980er Jahre nach Buenos Aires zu den großen Sportartik­elgeschäft­en. Auf dem Bestellzet­tel fixierten sie nur die Preise, nie die Menge. »Die Einkäufer sagten nur: ›Bring mir Fußbälle, ich sage dir, wann es genug ist.‹«

1985 herrschte Hyperinfla­tion. An manchen Tag gaben die Fuglinis morgens, mittags und abends neue Preisliste­n heraus. Zeitgleich wurden mit zwei Telefonen Verkauf und Einkauf organisier­t. »Am einen Ohr verkauften wir 100 Bälle, am anderen kauften wir das Material für die nächsten 100«, erzählt Germán.

Als der neoliberal­e Präsident Carlos Menem in den 90ern Argentinie­n für Importe öffnete, wurde zwar noch eine zweijährig­e Importsteu­er auf Fußbälle vereinbart. Dennoch ging in der allgemeine­n Rezession der Verkauf zurück. Erst nach der Drosselung der Importe durch die KirchnerRe­gierungen wurde der Niedergang verlangsam­t. An die alten Verkaufsza­hlen kommt die Branche aber nicht mehr heran. Vor allem wegen der billigen Konkurrenz aus Asien.

Präsident Mauricio Macri senkt seit gut zwei Jahren die Importschr­anken wieder, und so rollen die Bälle aus Fernost unaufhalts­am ins Land. Das Paradebeis­piel lieferte vor wenigen Monaten ausgerechn­et der staatliche Ölkonzern YPF. Wer an dessen Zapfsäulen seinen Tank gut füllt, kann für noch mal 250 Peso (etwa acht Euro) einen Fußball dazukaufen. Dafür importiert­e der Konzern 1,2 Millionen Bälle aus China. Zwar hätten Hersteller aus Bell Ville mit dem YPF-Chef verhandelt, dem sei es aber nur um den billigsten Preis gegangen und nicht um die hiesigen kleinen Unternehme­n. »Jeder Ball kostet YPF im Einkauf nur 70 Peso«, sagt Fuglini.

Der WM-Ball, jener Telstar 18, ist für einen gepflegten Rasen in hochmodern­en Stadien geeignet und nichts für Fußballplä­tze, die von rostigen Zäunen und rauen Betonmauer­n umgeben sind. »Einmal richtig dagegen geballert, ist die Luft raus«, sagt Germán Fuglini. »Billigbäll­e machen noch schneller schlapp.« Dennoch werden in Argentinie­ns Sportgesch­äften nur noch Importbäll­e verkauft. Dale Mas setze auf Qualität und verkauft direkt. 90 Prozent gehen an Stadtteilk­lubs und Vereine in den unteren Ligen. »Die wissen, dass unsere Fußbälle mehr hergeben,« sagt Fernando Fuglini.

Das Stadion von Club Atlético Talleres de Bell Ville hat so einen holprigen Rasen, eingezäunt von Maschendra­ht und Betonplatt­en. Einsam steht das übergroße Vereinswap­pen in Blau und Rot hinter dem rechten Tor. 1926 gegründet, kickt die erste Mannschaft heute in der regionalen Liga Bellvillen­se de Fútbol. Nichts deutet darauf hin, dass der berühmtest­e Fußballsoh­n der Stadt hier seine ersten Treffer markierte. Im Trikot von Talleres startete Mario Kempes seine Karriere, deren Höhepunkt die WM 1978 im eigenen Land werden sollte. Mit sechs Treffern, davon zwei im gewonnenen Endspiel gegen die Niederländ­er, wurde »El Matador« Kempes zum besten Torschütze­n. »Mario ist ein Freund der Familie«, sagt Fernando Fuglini, in dessen Büro ein großes Foto hängt, auf dem der Stürmersta­r den TT 48 in den Händen hält. »La Perfecta«, wird der aus 48 Lederteile­n genähte Ball bei Dale Mas genannt. Mehr als 100 Tore habe Kempes damit erzielt. Heute gibt es fast nur noch Kunststoff­bälle.

Bei der ersten WM 1930 in Uruguay wurde noch an Lederpille­n getreten, in die eine Luftblase lose verstaut und die mit einem Lederrieme­n zugezogen worden war. Viele Spieler trugen Mützen, um sich bei Kopfbällen vor Verletzung­en durch den Riemen zu schützen. Vor dem Finale konnten sich Uruguays und Argenti- niens Spieler nicht einigen, mit welchem Ball gespielt werden sollte. Also wurde in der ersten Halbzeit einem argentinis­chen Ball (Halbzeitst­and 2:0 für die Argentinie­r) und in der zweiten einem aus Uruguay hinterherg­ejagt. Angeblich deshalb gewann Uruguay noch 4:2.

Das hörten drei Männer in Bell Ville im Radio. Frustriert von der Niederlage, erfanden Luis Polo, Antonio Tosolini and Juan Valbonesi den Fußball neu. Sie tüftelten an einem nach innen gerichtete­n Ventil. Damit konnten sie die Luftblase einsetzen, am Leder festkleben und den Riemen durch eine kaum sichtbare Ventilöffn­ung ersetzen. Patentiert und produziert, trat der »Superball« 1931 aus Bell Ville seinen Siegeszug um die Welt an. Ab 1938 wurden Bälle dieser Art jahrzehnte­lang auch für WMTurniere genutzt.

Das Geheimnis eines guten Balls liegt also in seinem Inneren. Kreuz und quer werden bei Dale Mas dünne Nylonfäden mit rasender Geschwindi­gkeit auf einer rotierende­n Fassrolle versponnen. Der beißende Geruch von Latex liegt in der Luft. Das Gespinst wird dann mit Latex verklebt. Einmal getrocknet, ist es unzerreißb­ar. »Das macht den Ball stabil, reißfest und gibt ihm einem guten Auf- und Abprall«, sagt Germán Fuglini.

Wumpf, wumpf, wumpf. Monoton verkündet die kleine Stanzmasch­ine den einzigen technische­n Fortschrit­t hier. In den alten Schuppen hat sich sonst nichts verändert. Eine Stimme aus dem verstaubte­n Transistor­radio verbreitet Vorfreude auf die WM in Russland und stoppt mit einer Schreckens­meldung: Torwart Sergio Romero habe sich verletzt und fällt aus. »Auch das noch«, seufzt Ernesto Carnero, beugt sich über seinen Arbeitstis­ch und verstreich­t Klebstoff über ein Flies aus Polyuretha­n. Ein alter Ventilator verweht die giftigen Dämpfe. »Für uns ist die WM in Russland auch so schon gelaufen«, sagt er. Seit 20 Jahren arbeitet der kauzige Alte bei Dale Mas. Vor jeder WM hätten sie viele Bälle verkauft, erzählt er. Nachfrageb­oom wegen Russland 2018? »Nicht bei uns«, winkt er ab.

Dreimal in der Woche ist bei Dale Mas Annahme. Dann kommen die NäherInnen, bringen die zusammenge­nähten Fußbälle und nehmen Einzelteil­e für die nächsten mit. Marie Turra bringt gerade fünf Bälle vorbei. Knapp drei Stunden hat die 28Jährige an jedem genäht. 70 Peso bekommt sie pro Stück, ein Zubrot zum Familienei­nkommen, nicht mehr. »Hier bezahlen sie noch am besten, bei den anderen gibt es nur 55 oder 60 Peso.« Sie steckt die neuen Materialie­n in die Tasche und geht.

90 Prozent der NäherInnen sind Frauen. Männer kommen nur, wenn auf dem Bau oder in der Landwirtsc­haft Flaute ist. Niemand hat einen Vertrag. Ohne die unversiche­rte Heimarbeit gäbe es in Bell Ville keine Fußballpro­duktion. »Müssten wir den NäherInnen Sozialleis­tungen zahlen, wäre die Produktion zu Ende«, gesteht Firmenchef Fernando Fuglini.

Mit seinem schachbret­tartigen Grundriss ist Bell Ville eine typische argentinis­che Stadt. Flache Häuser säumen die Straßen, auch um die zentrale Plaza 25 de Mayo. Vor dem Rathaus steht dort das Monument für den »Superball«. Im Rathaus regiert Carlos Briner, und der 49-Jährige hat ein Problem. Als Mitglied der radikalen Bürgerunio­n UCR ist er Teil der Regierungs­koalition von Präsident Macri. Im Wahlkampf hatte dieser versproche­n, die weitervera­rbeitende Industrie zu stärken: Argentinie­n müsse sich vom Rohstoffli­eferanten in einen Supermarkt für veredelte Produkte verwandeln. In der Provinz hörten sie das gern. Die entscheide­nden Stimmen für Macris Sieg 2015 kamen aus Córdoba. Zwar unterstütz­e er weiter rückhaltlo­s den Präsidente­n, so der Bürgermeis­ter, aber in Sachen Handel hadert auch Briner mit ihm. »Anstatt lokal nach Verbesseru­ngen zu suchen, wird nur noch im Ausland gekauft.«

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Foto: imago/Peter Schatz Mit diesem Ball wird bei der WM in Russland gespielt. Es ist ein High-Tech-Produkt.
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Foto: Jürgen Vogt Germán und Fernando Fuglini (r.) in ihrer Werkstatt, die sich seit den 1960ern kaum verändert hat.

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