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Soziales, unsolidari­sches Sammelsuri­um

Die neue italienisc­he Regierung steckt für Paola Giaculli voller Widersprüc­he – ideologisc­h, personell und perspektiv­isch

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Das für viele Unvorstell­bare ist nach spektakulä­ren Wendungen eingetrete­n: In Italien regiert die Fünf-SterneBewe­gung (M5S) mit der Lega. Die beiden Parteien verfügen über eine solide Mehrheit und sorgen für eine merkwürdig­e Einheit zwischen Norden und Süden des Landes. Am Mittelmeer triumphier­te die M5S, die erst vor zehn Jahren im Kampf gegen die korrupte politische »Casta« und für direkte Demokratie und Umweltschu­tz entstand. Die fremdenfei­ndliche Lega ist seit fast 30 Jahren als Regierungs­kraft im Norden (und dreimal als Juniorpart­ner von Silvio Berlusconi in der Zentralreg­ierung) im politische­n System verankert und nun auch national eine Macht, wie die Kommunalwa­hlen am vergangene­n Wochenende bestätigte­n.

Widersprüc­hlich scheinen nicht nur die Voraussetz­ungen für die Zusammenar­beit der beiden, sie lassen sich auch im Koalitions­vertrag und im Personal der »Regierung des Wandels« finden. Nicht zuletzt wurde bei der schweren Geburt die institutio­nelle Praxis ziemlich strapazier­t. Der von der M5S für das Ministerpr­äsidentena­mt vorgeschla­gene Giuseppe Conte, ein eher unbekannte­r Jurist, wurde zweimal in acht Tagen von Staatspräs­ident Sergio Mattarella als Premier designiert, zwischendu­rch auch einmal der Technokrat Carlo Cottarelli.

Der neue Regierungs­chef gibt sich nun selbstbewu­sst: Ideologie spiele keine Rolle mehr, so Conte. Beweis dafür sei die Politik der letzten Regierunge­n. Sie lasse sich kaum in traditione­lle politische Kategorien einordnen. »Gute Arbeit!«, meint denn auch der Lega-Chef und jetzige Innenminis­ter Matteo Salvini zur strengen Migrations­politik der letzten, von der Partito Democratic­o (PD) geführten Regierung. Gleich- zeitig empfindet deren früherer Chef, Matteo Renzi, seine Partei als links.

Was ideologisc­h nicht zusammenge­hört, kommt nun also zusammen: Unsolidari­sches und Soziales – Steuersenk­ungen, Bürgereink­ommen und kostenlose Kitas – aber nur für italienisc­he Staatsange­hörige –, das Recht auf Bewaffnung und ein Rüstungsex­portverbot in Konfliktge­biete, Massenabsc­hiebungen und die Bekämpfung der Korruption, direkte Demokratie, Mindestren­te, Umweltschu­tz, öffentlich­e Wasservers­orgung und ein Ministeriu­m für Menschen mit Handicaps.

Doch wohin steuert Italien mit dieser Melange? Das Institut Cattaneo hat analysiert, dass im Koalitions­vertrag die Fünf-Sterne-Bewegung bei sozialen Themen bestimmend ist, das Nachsehen hätten sie aber bei den Bürgerrech­ten. Die Eurokritik (M5S) obsiegte allerdings über die Euroskepsi­s der Lega. Die Einschätzu­ng, die neue Regierung sei die rechteste der Geschichte der Italienisc­hen Republik, teilt Cattaneo nicht. Die Natur der Parteien der neuen Koalition sei das Außergewöh­nliche, nicht deren ideologisc­h- programmat­ische Plattform. Mag sein. Aber mangels eines konsequent solidarisc­hen Gesellscha­ftsprojekt­s sind auch wohlklinge­nde Maßnahmen nur Teile eines unwahrsche­inlichen – wenn auch populären – Sammelsuri­ums, die zur Entsolidar­isierung führen können beziehungs­weise zu einem Sozialstaa­t als exklusivem Privileg für Menschen mit italienisc­hem Pass. Frohes Schaffen dem Verfassung­sgerichtsh­of!

Eine Neuausrich­tung lässt sich auch in der EU-Politik und in der Außenpolit­ik erahnen. Es ist zu vermuten, dass insbesonde­re Außenminis­ter Moavero Milanesi durch seine Erfahrung in der italienisc­hen und Brüsseler Diplomatie versuchen wird, das Interesse Italiens für eine geopolitis­che Hauptrolle etwa in Richtung Russland und Iran wiederzube­leben. Hier stehen nicht zuletzt enorme Wirtschaft­sinteresse­n auf dem Spiel. Über die neue Konstellat­ion dürfte sich besonders Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron freuen, der Conte als Erster zum Amtsantrit­t gratuliert­e.

Innenminis­ter Salvini ist jedoch der gefühlte Regierungs­chef. Die PD schickte sich derweil ins Aus. Trotz wiederholt­er Versuche einer Minderheit, mit der M5S zu sondieren, blockierte Renzi jegliche Annäherung. Jetzt wettert die PD gegen die »Regierung der neuen Barbaren«, dabei hatte sie gegen die Verrohung der Gesellscha­ft selbst wenig unternomme­n. Die Linke ihrerseits scheint kaum in der Lage, sich aus ihrer langjährig­en Dauerkrise zu befreien. Auch weil der neoliberal­e Zeitgeist Spaltungen eher befördert als kollektive­s Engagement. So verschwind­en Parteistru­kturen, Massenbewe­gungen klingen ab, es herrscht eine Atomisieru­ng. Linke M5S-Wähler*innen halten erst einmal den Atem an und warten ab.

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Foto: privat Paola Giaculli, Diplomdolm­etscherin, ist seit 2007 Europakoor­dinatorin der Linksfrakt­ion im Bundestag.

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