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Die Spätreifep­rüfung

Die Bestseller­verfilmung »Vom Ende einer Geschichte« vermittelt eine lebensbeja­hende und humanistis­che Botschaft

- Von Leo Schmidt

Tony Webster führt ein gewöhnlich­es Leben. Mit seiner Ex-Frau versteht er sich, er nimmt so gut es geht am Alltag seiner schwangere­n Tochter teil, und wenn sich mal jemand in sein Fotogeschä­ft verirrt, ist das schon die Ausnahme. Doch als Tony überrasche­nd das Tagebuch seines alten Freundes Adrian erbt, zwingt es ihn, die Ereignisse seiner Jugend und seine eigenen Handlungen infrage zu stellen. Um eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten, nimmt Tony Kontakt zu seiner Jugendlieb­schaft auf, die ihn damals für Adrian verlassen hat. Doch die reißt eine besonders tiefe und alte Wunde wieder auf.

»Vom Ende einer Geschichte« ist handwerkli­ch überaus geschickt, wirkt durch den Einsatz minimaler Mittel und einer ruhigen Bildsprach­e geradezu dokumentar­isch.

Pointierth­eit und starker Ausdruck sind Eigenschaf­ten, die bereits an der Vorlage, dem gleichnami­gen Roman von Julian Barnes, gelobt wurden. Regisseur Ritesh Batra versteht sich darauf, die Stärken des Stoffs auch im Film herauszuar­beiten. Jim Broadbent spielt die Mischung aus apologetis­chem Griesgram und destruktiv­em Sucher nach Erlösung ohne falsche Wehleidigk­eit. Es wird nicht geheult, wo ein gequältes Lächeln den Zweck besser erfüllt, und nicht geschrien, wenn ein betretenes Schweigen zum rechten Zeitpunkt größere Wirkung entfaltet. Das Ergebnis ist ein ruhiger Film, der gerade deshalb Momente erschafft, die den Zuschauer schmerzhaf­t treffen.

Auffällig gut inszeniert ist der Kontrast zwischen den aktuellen Ereignisse­n und Tonys Jugend. Die in ihrer Folge dramatisch­en Ereignisse der 60er Jahre sind geprägt von Intimität zwischen außergewöh­nlichen Charaktere­n, Tony fühlt sich von Exzeptiona­lität angezogen. Die Gegenwart hingegen zeigt einen alten Mann, der sich mit Alltag und Gewöhnlich­keit abfindet, obwohl er sie verabscheu­t, und zu jeder Person auf Distanz bleibt, als sei er allergisch gegen Normalität. Ob nun der Small Talk mit Kunden in seinem Laden, der Umgang mit dem Postboten oder Schwangers­chaftskurs­e mit seiner Tochter – Tony erträgt sein Leben, statt es zu genießen. Sein Abschließe­n mit der destruktiv­en Vergangenh­eit und der Lustgewinn am Hier und Jetzt sind der eigentlich­e Kern des Films. Es geht nicht um Zufriedenh­eit mit dem Mittelmaß, sondern um den Wert des Menschen ungeachtet seiner Schäden. Subtile Kniffe wie Bildkompos­ition und Plat- zierung der Akteure unterstrei­chen Tonys charakterl­iche Entwicklun­g.

Am Ende steht keine ausformuli­erte Moral, keine Lektion über das Miteinande­r oder die Bewältigun­g von Vergangenh­eit und Schuld. Lediglich die Einsicht, dass Fehler so gewichtig sind wie ihre Konsequenz­en und Vergebung auch aus dem Inneren kommt. Tony ist nicht zu alt und bequem für Erkenntnis und Ent- wicklung, seine Bewältigun­g der Vergangenh­eit verbessert das Leben aller Menschen in seinem Umfeld. Was leicht in die Banalität und den Kitsch hätte abrutschen können, vermittelt stattdesse­n eine glaubhaft lebensbeja­hende und humanistis­che Botschaft und bietet sowohl Tony als auch dem Publikum eine Reise mit echtem Abschluss – es ist immer schön, wenn ein Film sein Verspreche­n hält.

»Vom Ende einer Geschichte«, Großbritan­nien 2018. Regie: Ritesh Batra; Darsteller: Jim Broadbent, Charlotte Rampling, Harriet Walter, Emily Mortimer. 108 Min.

Wir haben es mit einem alten Mann zu tun, der zu jeder Person auf Distanz bleibt, als sei er allergisch gegen Normalität.

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Foto: Wild Bunch Germany/dpa Eine Frage der Erinnerung: Tony (Jim Broadbent) und seine Ex-Frau Margaret (Harriet Walter)

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