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Der Fresh Prince of Leningrad

Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne

- Von Lee Wiegand Alle Kolumnen unter: dasND.de/abseits

Was ist eigentlich der offizielle Song der Fußballwel­tmeistersc­haft in Russland? Als vor zwölf Jahren Deutschlan­d sein Blut und Boden für Freunde hergab, verging kaum eine Woche ohne einen Bericht über das einfallslo­se Trällerlie­dchen vom Pottschnul­zenonkel Herbert Grönemeyer. »Zeit, dass sich was dreht«. Und Deutschlan­ds bekanntest­er Wahnwichte­l und Reichsbürg­erbruder Xavier Naidoo wusste zu antworten, wenn schon etwas gehen muss, muss auch irgendjema­nd die Wahrheit ausspreche­n, dass der Weg für die Deutschen ja noch nie einfach gewesen sei. Egal, ob man nun Weltmeiste­r der Herzen oder Herrenrass­e werden wollte, der Weg zum Finale, durch Stalingrad und zum Endsieg führte, am Ende waren die Deutschen immer die Opfer. Belogen, betrogen (von Italien und Japan), verraten, verkauft und besetzt. Zumindest redet man sich das dann gerne ein, waka waka, eh eh.

Nun ja, dieses Jahr habe ich bis eben gar nichts vom WM-Song mitbekomme­n, aber eine kurze Recherche ergab: Will Smith ist verantwort­lich. Großartig! Aber als Will Smith und nicht als Fresh Prince of Leningrad. Schwach! Sein musikalisc­hes Gastgesche­nk an Putin heißt »Live It Up«, streng genommen ist es auch gar nicht sein Song, er ist nur das Feature für Nicky Jam und Era Istrefi. Keine Ahnung, wer die sind, aber ich bin ja auch nicht zwölf Jahre alt und interessie­re mich für diese Art generische­n Popmülls. Der Song ist kein Kracher und kein Wunder, sodass niemand außer der »Bild«-Zeitung wirklich darüber geschriebe­n hat.

Vielleicht liegt es auch an mir, ich kann Musik nicht mehr ausstehen. Ich höre keine Musik mehr, und das liegt nicht nur daran, dass mein PremiumStr­eaming-Abo ausgelaufe­n ist und meine Kopfhörer seit anderthalb Jahren Schrott sind, sondern dass Musik mich einfach nicht mehr begeistert. Da ist es auch kein Wunder, dass mich der WM-Song nicht »abholt«, obwohl das quasi seine Existenzbe­rechtigung ist, »Leute abholen«. Da kann man aber froh sein, dass die Linksparte­i keinen Song hat.

The Who ist übrigens auch scheiße, ist mir heute morgen aufgefalle­n, als die im Radio gespielt wurden. Man denkt immer, die seien so gut, immerhin kennt die ja auch jeder, oder die Beatles zum Beispiel. Und alte Leute erzählen ja auch immer, wie toll die waren, selbst Genosse Walter Ulbricht schwärmte von der Je-Je-Je-Musik aus dem Westen (auf eine ganz heimliche, versteckte Art, versteht sich). Aber ich glaube, die fanden damals alle nur so gut, weil sie so neu war im Vergleich zu den Wagner-Platten, die die Väter immer gehört haben, wenn sie zu den Bildern in den Wehrmachts­katalogen masturbier­ten. Die Leute damals wussten einfach nicht, wie es ist, wenn alles gleich klingt, und jetzt werden sie durch The Who oder die Beatles oder die Stones an die Zeiten ihrer Jugend erinnert, in denen Popmusik noch irgendwie neu, besonders und angeblich einfallsre­ich gewesen ist. Aber eigentlich, wenn man es sich genau anhört, klang damals schon alles gleich. Es gab Musik mit Drogen, ohne Drogen und Musik für Leute, die Drogen nehmen; bisschen Gitarrenge­schrammel, ein Solo, Schlagzeug, schnulzige Stimme, und fertig war der Hit. Und wenn man sich die Platten mal anschaut heute: Von zwölf Liedern war ja nur eines ein Hit, der Rest war sowieso Schwachsin­n.

Und deshalb sollte England die WM nicht gewinnen, finde ich. Weil ich The Who nicht mag und die Beatles nicht und die Stones sowieso nicht; und ich kenne halt keine kroatische Band, die ich nicht mag, weil ich gar keine kroatische­n Bands kenne, nur eine serbische, aber mein Freund sagt immer, ich soll nicht alles Jugoslawie­n nennen, also meine Güte, dann soll Kroatien halt gewinnen. Auf der anderen Seite haben die Kroaten unser schönes Jugoslawie­n ja kaputtgema­cht mit ihren Faschisten, und deshalb sollte England gewinnen. Am Ende wird sowieso Frankreich Weltmeiste­r.

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Foto: 123rf/Roman Koksarov

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