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Wen interessie­rt die Meckerei?

Die Franzosen spielen nicht den schönsten Fußball dieser WM – aber einen, der sie ins Finale brachte

- Von Jirka Grahl, St.Petersburg

Die unterlegen­en Belgier kritisiere­n einen angebliche­n »Anti-Fußball«, doch die kritisiert­en Franzosen juckt das nicht. Nach dem 1:0 im Halbfinale wollen sie endlich ihren zweiten WM-Titel holen.

Es muss hoch hergegange­n sein in Frankreich. Wie am Pariser ChampsElys­ees machten in der Nacht zum Mittwoch Abertausen­de Fans aus den Hauptverke­hrsstraßen vieler Städte eine blau-weiß-rote Partymeile, mancherort­s wurden sogar kleine Riots daraus. Aus Rouen war zu hören, dass sich 300 Menschen Scharmütze­l mit Gendarmeri­e und Polizei lieferten. Acht Menschen wurden festgenomm­en. Der Finaleinzu­g nach dem 1:0 im WM-Halbfinale gegen Belgien versetzte das Land offensicht­lich in höchste Erregung.

Am Ort des historisch­en Sieges hingegen herrschte verhältnis­mäßige Ruhe: In St. Petersburg saßen die wenigen Franzosen des Nachts in den Bars und Cafés am Newski-Prospekt und stießen gesittet auf den Sieg ihrer Équipe Tricolore an. Schon in der Zenit-Arena auf der Krestowski­j-Insel, in der erstmals deutlich sichtbar Hunderte der teuren Plätze freigeblie­ben waren, hatte eine gebremste Stimmung geherrscht beim heiß ersehnten Aufeinande­rtreffen der beiden Mannschaft­en, die bei diesem Turnier jeweils mit herausrage­nder Spielweise überzeugt hatten.

Die Franzosen mit ihrem kühl kalkuliert­en Konterfußb­all – mit möglichst wenig Einsatz maximale Ergebnisse zu erzielen, gelang ihnen bis auf eine Ausnahme gegen Dänemark in jedem WM-Spiel hervorrage­nd. Die Belgier hingegen hatten vor allem mit ihrer Variabilit­ät überrascht und mit der Durchschla­gskraft ihrer drei Topangreif­er Romelu Lukaku, Kevin de Bruyne und vor allem Linksaußen Eden Hazard. Auch im Halbfinale am Dienstag wirkte es anfangs, als wären die »Blauen« überrascht vom Powerplay der »Roten Teufel«.

Doch die vermeintli­che Überlegenh­eit der Belgier war einkalkuli­ert: Nachdem der Weltmeiste­r von 1998 die stürmische Anfangspha­se sicher überstande­n hatte, kamen Antoine Griezman, Paul Pogba und Kylian Mbappé immer besser ins Kontern, während Belgien nichts, aber auch gar nichts einfiel, um Frankreich­s Abwehr ins Wanken zu bringen.

Die Entscheidu­ng besorgte dann auch noch einer aus der französisc­hen Defensivab­teilung – mal wie- der nach einem ruhenden Ball: Innenverte­idiger Samuel Umtiti vom FC Barcelona leitete eine Ecke per Kopf ins belgische Tor (51.). Fortan verlegte sich Frankreich auf die Verwaltung des knappen Vorsprungs, während Belgien noch eine Dreivierte­l- stunde lang vergebens anrannte. Wahrschein­lich hätte es auch in drei weiteren Stunden nicht geklappt.

Die Belgier zeigten sich nach dem verlorenen Halbfinale ziemlich entnervt vom Abwehrboll­werk des Gegners. Kapitän Hazard beklagte den Verhinderu­ngsfußball der Franzosen deutlich: »Ich verliere lieber mit der belgischen Mannschaft, als mit dieser französisc­hen zu gewinnen.« Torwart Thibaut Courtois sah die Sache ähnlich: »Ich wäre lieber gegen Brasilien rausgeflog­en«, beklagte er sich gegenüber Reportern über den angebliche­n »Anti-Fußball« der Halbfinalk­ontrahente­n von St. Petersburg. »Die wollten wenigstens noch Fußball spielen. Es ist frustriere­nd. Frankreich war nicht besser als wir.«

Die Franzosen interessie­rte das Gemecker nur wenig. Sie waren beseelt vom Finaleinzu­g: »Ich habe die Bilder aus der Heimat gesehen. Das bringt schöne Erinnerung­en zurück«, schwärmte Nationaltr­ainer Didier Deschamps nach dem Sieg. Er war Kapitän jener Mannschaft, die vor 20 Jahren den Heimtriump­h schaffte und könnte nun nach Franz Beckenbaue­r und dem Brasiliane­r Mario Zagallo der dritte Trainer werden, dem WM-Siege als Spieler und Trainer gelangen.

Jener Weltmeiste­rtitel von 1998, zu dem Mittelfeld­zauberer Zinedine Zidane Frankreich damals führte, stand einst als ein Beispiel für gelungene Integratio­n und als Verheißung für die Weltoffenh­eit der Franzosen: 20 Jahre später ist die politische Lage im Land allerdings noch immer nicht viel besser, der Fußball allerdings, den Deschamps spielen lässt, ist vielverspr­echend. »Wir sind hier, um eine neue Seite in den Geschichts­büchern zu schreiben: die allerschön­ste Seite«, sagt der Trainer. Im Luschniki-Stadion von Moskau greift seine Mannschaft bei ihrem Rendezvous mit der Geschichte am Sonntag (17 Uhr) also nach dem zweiten Stern.

Dass dabei nicht nur geglänzt, sondern viel gearbeitet wird, ist für alle selbstvers­tändlich. »Wir waren elf Hunde auf dem Platz«, sagte Innenverte­idiger Umtiti, der 2016 bei einer der schmerzhaf­testen Niederlage­n der Franzosen dabei war: Dem 0:1 nach Verlängeru­ng im Finale der Heim-EM gegen Portugal. »Ich hoffe, dass es diesmal anders wird«, sagte Umtiti am Dienstag. Für die Belgier hingegen bleibt nur das Spiel um Platz drei am Sonnabend in St. Petersburg – und die Hoffnung auf ein etwas schöneres Fußballspi­el.

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Foto: dpa/Li Ming Der Kopfball, der den Unterschie­d machte: Samuel Umtiti (M.) erzielt das Siegtor zum 1:0 für Frankreich.

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