Was würde »No Deal« bedeuten?
Im März 2019 verlässt Großbritannien die EU. Die Verhandlungen drohen zu scheitern
Da neben den EU-Staaten auch das Europäische und das britische Parlament einer Austrittsvereinbarung zustimmen müssen, sollte diese im Herbst stehen. Die Gespräche sind jedoch zum Stillstand gekommen. Wirklich rund sind die Brexit-Verhandlungen zwischen London und Brüssel noch nie gelaufen. Gespräche über die größten Streitpunkte wurde immer wieder verschoben. Jetzt müssten viele von diesen Punkten geklärt werden – und dieGespräche sind praktisch zum Stillstand gekommen.
Daher hört man in diesen Tagen immer mehr Warnungen davor, dass die Verhandlungen scheitern könnten und Großbritannien die EU ohne ein Abkommen verlassen könnte. Großbritanniens Minister für Internationalen Handel, Liam Fox, machte kürzlich die EU dafür verantwortlich: »Ich glaube, die Unnachgiebigkeit der (Europäischen) Kommission drängt uns in Richtung ›No Deal‹«, sagte er der »Sunday Times«. Er sehe derzeit eine 60-prozentige Chance, dass dies passieren könne, fügte er hinzu. Außenminister Jeremy Hunt sagte vor wenigen Tagen, das Land steuere »auf einen No-Deal-Brexit aus Versehen« zu. Auch Bank of England-Chef Mark Carney warnte davor, dass das Risiko eines No-DealBrexits »unangenehm hoch« sei. Und der neue Brexit-Minister Dominic Raab sorgte kürzlich für Aufsehen, als er einräumte, dass die Regierung plane, große Mengen an Lebensmitteln zu horten, damit es im Fall eines NoDeal-Brexits nicht zu Versorgungsengpässen komme.
Zwar haben sich Brüssel und London schon auf eine Übergangsfrist verständigt, die nach dem Brexit-Termin im kommenden März in Kraft treten und bis Ende 2020 andauern soll. Doch damit diese Übergangsregelung in Kraft tritt, müssten zuerst die Scheidungsmodalitäten geklärt sein. Und da sämtliche EU-Staaten, das EU-Parlament und das britische Parlament einer solchen Vereinbarung zustimmen müssten, müsste diese eigentlich bis zum Herbst vorliegen. Das erhöht das Risiko eines No-Deal-Brexits.
Viele Brexit-Hardliner halten an ihrer Ansicht fest, dass Warnungen vor einem Brexit ohne Abkommen überzogen seien. Das Land würde im Fall eines No-Deal-Brexits auf die Regeln der Welthandelsorganisation WTO zurückfallen und dann eben unter diesen Regeln mit der EU Handel treiben, hört man oft. Und Großbritannien könnte sämtliche Zölle abschaffen und so die Notwendigkeit von Zollkontrollen umgehen, argumentieren viele Brexit-Hardliner weiter.
Doch so ein Schritt würde zu massiven Problemen führen: Der produzierende Sektor des Landes würde durch den zollfreien Import von Pro- dukten aus aller Welt leiden. Teile der britischen Landwirtschaft würden den zollfreien Import von Agrarprodukten aus aller Welt kaum überleben. Und britische Exporte in die EU würden weiter mit Zöllen belegt werden: Denn die EU könnte ihre Zölle für britische Waren selbst dann nicht abschaffen, wenn sie es wollte. Denn gemäßWTORegeln müsste die EU dann auch gegenüber allen anderen Ländern ihre Zölle aufheben.
Auch sieht es nicht danach aus, als könnte Großbritannien in kurzer Zeit viele neue Handelsabkommen abschließen, um den verlorenen Zugang zum Europäischen Binnenmarkt zu kompensieren. Viele Brexit-Hardliner setzen große Hoffnungen in ein Handelsabkommen mit den USA. Doch schon jetzt ist klar, dass die USA von Großbritannien unter anderem erwarten würden, US-Lebensmittel ins Land zu lassen, die wegen der nied- rigen Produktionsstandards nicht in die EU exportiert werden dürfen. Washington dürfte auch verlangen, dass Großbritannien sein Gesundheitssystem für amerikanische Anbieter öffnet. Indien hat zu verstehen gegeben, dass es in Sachen Handelsabkommen keinen Grund zur Eile sehe.
Großbritannien könnte auch die mehr als 50 Handelsabkommen verlieren, die Brüssel mit Staaten wie Mexiko, Südkorea und Japan getroffen hat. Nach dem Brexit könnte London diese Handelsabkommen zwar theoretisch übernehmen. Doch hierzu müssten sowohl die EU als auch die betreffenden Länder ihren Segen erteilen. Sollte die Trennung ruppig verlaufen, könnte die EU London diese Bitte verweigern.
An den Grenzen könnte es nach einem No-Deal-Brexit zu chaotischen Zuständen kommen. Denn die Zoll-, Pass- und Qualitätskontrollen, die dann umgehend erforderlich werden würden, hätten lange Rückstaus im Südosten Englands zur Folge. Derzeit gibt es Pläne, einen etwa 20 Kilometer langen Abschnitt der M20-Autobahn in einen LKW-Parkplatz zu verwandeln. Im Fall eines abrupten NoDeal-Brexits rechnen die Behörden mit Staus in einer Länge von bis zu 50 Kilometern. In der gesamten Region um Dover ist die Einrichtung von riesigen LKW-Parkplätzen geplant.
Im Fall eines No-Deal-Brexit würde Großbritannien zudem aus allen EU-Institutionen und aus allen EUAgenturen fliegen, etwa aus der Europäischen Arzneimittelagentur und aus der Europäischen Agentur für Flugsicherheit. Im schlimmsten Fall könnte ein No-Deal-Brexit dazu führen, dass aus Großbritannien kommende Flugzeuge keine europäischen Flughäfen mehr ansteuern dürfen. Medikamente, die in Großbritannien hergestellt werden, dürften nicht mehr in der EU verkauft werden, solange keine neuen Vereinbarungen getroffen worden sind.
Besonders schwerwiegend würde sich ein harter Brexit auf die Automobilindustrie des Landes auswirken. Der Sektor beschäftigt in Großbritannien mehr als 850 000 Menschen, 186 000 von ihnen in der Produktion. Ein Großteil der Produktion erfolgt »just in time«. Sprich: Die Teile werden erst kurz, bevor sie gebraucht werden, in die Fabriken geliefert. Viele Lieferketten erstrecken sich quer durch den europäischen Kontinent. Auf britische Zulieferer umzusteigen wäre teuer, würde Zeit kosten und wäre nicht immer möglich – und es würde die Produktion eventuell verteuern. Auch die britischen Automobilexporte würden leiden: 80 Prozent der in Großbritannien hergestellten Fahrzeuge werden exportiert, der Großteil von ihnen in die EU. Hier würden im Fall eines No-Deal-Brexits Zölle fällig werden. Japan hat schon mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass Konzerne wie Honda und Nissan, die in Großbritannien große Produktionsstandorte unterhalten, das Land verlassen könnten.
Das Schicksal der rund 3,8 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und der etwa 1,3 Millionen britischen Bürger in der EU wäre im Fall eines No-Deal-Brexits vollkommen offen. Dabei dürfte die allgemeine Unsicherheit, die sich aus einem solchen Szenario ergeben würde, viele EU-Bürger dazu veranlassen, das Land zu meiden. Schon jetzt verrotten auf britischen Feldern Lebensmittel, weil nicht wie sonst genug europäische Saisonarbeiter die Ernte bestreiten. Dem Gesundheitssystem drohen katastrophale Engpässe: So kommen schon jetzt immer weniger europäische Pflegekräfte nach Großbritannien. Dem Gesundheitsdienst NHS fehlen 42 000 Krankenschwestern und Pfleger.