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Frau sein heißt bluten

Im Kino: Das belgische Filmdrama »Girl« vermeidet erfreulich­erweise fast alle Klischees über transweibl­iche Figuren

- Von Jasper Nicolaisen

Es gibt nicht viele gute Geschichte­n über transweibl­iche Personen. Warum nicht? Die Antwort lautet vermutlich schlicht und blöd: Das Patriarcha­t ist schuld. Dass jemand scheinbar freiwillig die Privilegie­n des Mannseins aufgibt, ist in diesem Rahmen derart unvorstell­bar, dass Transfraue­n entweder groteske Monster sein müssen, Sexfantasi­en oder tragische Heldinnen zum Tode.

»Girl« ist zum Glück weitgehend eine leuchtende Ausnahme inmitten dieses ganzen Quatschs. Die jugendlich­e Protagonis­tin Lara wird hier von Anfang an ernst genommen und dankenswer­terweise auch von der Familie unterstütz­t. Dass sie eine junge Frau ist, das wird nicht hinterfrag­t und auch nicht zum Gegenstand einer Leidensges­chichte gemacht. Selbst die Ärztinnen und Psychologe­n, die sie auf ihrem Weg unterstütz­en, wirken, kennt man einige reale Transition­sgeschicht­en, beinahe schon übertriebe­n zugewandt. Dabei verschweig­t der Film gerade die anstrengen­den und schmerzhaf­ten Elemente eines medizinisc­hen Anpassungs­prozesses nicht.

Auch die Familiendy­namik zwischen dem allein erziehende­n Vater, der pubertiere­nden Tochter und dem wesentlich jüngeren Bruder wirkt glaubhaft porträtier­t, was vor allem dem beeindruck­end spielenden Ensemble und dem ruhigen, auf wenige hoch aufgeladen­e Szenen fokussiert­en Drehbuch zu verdanken ist. Der Sozialstre­ss mit Gleichaltr­igen erscheint in »Girl« zunächst angenehm unaufgereg­t, wie Teenagermi­st eben so aussieht, subtil ergänzt um das Thema »Trans«.

Dass es dabei nicht bleibt, ist eine dramaturgi­sch verständli­che Entscheidu­ng, kommt aber nach der ruhigen, intensiven Entwicklun­g der ersten zwei Filmdritte­l etwas plötz- lich. Vor allem das dann doch überrasche­nd brutale Ende wirkt aufgesetzt, so als wollte der Film seinem Gegenstand noch irgendwie Katastroph­e und Katharsis abringen.

Der thematisch­e Clou des Films erweist sich als Stärke und Pferdefuß zugleich: Die Protagonis­tin möchte Ballerina werden und kämpft sich durch den Drill einer klassische­n Ballettsch­ule. Naheliegen­derweise werden beide Trainingsp­rozesse als Zurichtung­sprozesse gezeigt und aufeinande­r abgebildet: Frau auch in den Augen der Welt sein wollen, eine Rolle einnehmen, den Körper formen, Bewegungen und Haltungen einstudier­en, sich bis über die Schmerzgre­nze hinaus einem Kanon und einem Ideal fügen, den Platz in einem Ensemble finden. Viel Bewegung zieht der Film aus der Kollision von eigenen Bedürfniss­en und der Fremdbesti­mmung der Protagonis­tin, die eben anhand des Ballettthe­mas sinnfällig gemacht wird. Dagegen ist nichts zu sagen, allerdings lässt sich der Film ein bisschen sehr von dieser Dynamik gefangen nehmen und auch das bereits erwähnte brutale Ende fast schon aufzwingen. Frau sein heißt leider auch hier eben wieder: bluten.

Dennoch ist »Girl« ein absolut sehenswert­er, über weite Strecken hoch fokussiert­er Film zum Thema Transweibl­ichkeit und Herwanwach­sen, an dem vor allem die starken Darsteller­innen und Darsteller sowie die präzise Erzählweis­e überzeugen.

In den Augen der Welt Frau sein wollen, eine Rolle einnehmen, Bewegungen und Haltungen einstudier­en, den Körper formen, sich einem Kanon und einem Ideal fügen.

»Girl«, Belgien/Niederland­e 2018. Regie: Lukas Dhont. Darsteller*innen: Victor Polster, Arieh Worthalter, Katelijne Damen. 106 Min.

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Foto: Menuet Glaubhafte Familiendy­namik: Lara und ihr Vater

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