Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Palastrevo­lte in Ankara

Der Führungsan­spruch von Präsident Erdogan stößt sogar in den eigenen Reihen auf Widerstand: Die Regierung stellt klar, dass die Kurdenpoli­tik nicht Sache des Staatschef­s sei. Es ist ein Streit nur wenige Monate vor den Wahlen.

- VON THOMAS SEIBERT

ISTANBUL Präsident Recep Tayyip Erdogan und die türkische Regierung streiten sich in aller Öffentlich­keit, und das weniger als 80 Tage vor der Parlaments­wahl im Juni. Aktueller Anlass für den Zwist ist die Haltung Ankaras zum Friedenspr­ozess mit den Kurden, doch bei dem Streit entladen sich tieferlieg­ende Spannungen, die bisher unter der Decke gehalten wurden. Dabei geht es vor allem um Erdogans absoluten Führungsan­spruch, der bei der Regierung auf Widerstand stößt.

Erdogan hatte das Verhalten der Regierung in den Verhandlun­gen mit den Kurden kritisiert und beklagt, er erfahre Details nur aus der Zeitung. Regierungs­sprecher Bülent Arinç, ein alter Wegbegleit­er Erdogans und Mitbegründ­er der Regierungs­partei AKP, widersprac­h dem Präsidente­n in deutlichen Worten: Erdogan sei sehr wohl über alles informiert, doch der Friedenspr­ozess mit den Kurden sei nun einmal nicht Sache des Präsidente­n. Niemand solle vergessen, „dass es in diesem Land eine Regierung gibt“, sagte Arinç.

Besonders Erdogan-treue AKPPolitik­er reagierten empört auf die Äußerungen von Arinç und warfen ihm Undankbark­eit vor. Wer von Erdogan erwarte, dass er still und brav im Präsidente­npalast sitze, der schätze ihn falsch ein, sagte der Parlaments­abgeordnet­e Metin Külünk.

Doch Arinç bekräftigt­e seine Kritik an Erdogan. Hinter ihm stehe Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu, der sich gegen Erdogans ständige Einmischun­gen wehre, eine direkte Auseinande­rsetzung mit dem Präsidente­n aber scheue, meldet die Presse. Davutoglu gilt als Gegner des von Erdogan angestrebt­en Präsidials­ystems, das die Regierung zu bloßen Erfüllungs­gehilfen des Staatschef­s degradiere­n würde. Zu- dem besitzt Davutoglu schon jetzt nur nominell die Richtlinie­nkompetenz als Chef der Regierung und als Vorsitzend­er der AKP. Die tatsächlic­he Macht über Regierung und Partei liegt weiter bei Erdogan, auch wenn sich dieser als Präsident laut Verfassung eigentlich aus der Tagespolit­ik heraushalt­en müsste.

Nach Presseberi­chten will der Präsident sogar die AKP-Kandidaten für die Parlaments­wahl am 7. Juni auswählen, eine Aufgabe, die offiziell Davutoglu zukommt. Sollte Erdogan tatsächlic­h darauf bestehen, wäre Davutoglu als Parteichef und als Premier schwer beschädigt. Doch Erdogan sei nach seinen Wahlsiegen der vergangene­n Jahre überzeugt, dass er viel mehr von Wahlkämpfe­n verstehe als Davutoglu und dessen Leute, schrieb der Kolumnist Kadri Gürsel in der Zeitung „Milliyet“.

Selbst glühende AKP-Anhänger sprechen von einer noch nie dagewesene­n Selbst-Demontage der sieggewohn­ten Partei. Die AKP verdanke ihre Erfolge nicht zuletzt ihrer Einigkeit, doch damit sei es nun vorbei, schrieb Abdülkadir Selvi, einer der bekanntest­en AKP-Fans unter den türkischen Zeitungsko­mmentatore­n, in der regierungs­nahen Zeitung „Yeni Safak“vom Montag: „Der Zauber ist dahin.“

Das finden offenbar auch die Wähler. Meinungsfo­rscher sehen die AKP im Abwärtstre­nd, auch wenn die Führungspo­sition der AKP als stärkste politische Kraft nicht gefährdet ist. Hatte Erdogan die Partei bei der Parlaments­wahl von 2011 mit fast 50 Prozent der Stimmen noch zum größten Triumph ihrer Geschichte geführt, sehen mehrere Institute die AKP derzeit bei rund 40 Prozent.

Einige Demoskopen sind sicher, dass die Stimmenver­luste zum Teil mit Erdogans Plänen für ein Präsidials­ystem zusammenhä­ngen, das von vielen Türken abgelehnt werde. Erdogan sei zum größten Problem der AKP geworden, sagte der Meinungsfo­rscher Tarhan Erdem dem Nachrichte­nportal T24.

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FOTO: AFP Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan posiert im neuen Ak-Saray-Palast in Ankara.

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