Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Herr Yamashiro

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Im Fernseher lief das Hinspiel des UEFA-Pokalfinal­es zwischen dem SSC Neapel und dem VfB Stuttgart. Nach der frühen Führung durch die Stuttgarte­r hatte sich Ausgelasse­nheit im Zimmer breitgemac­ht. Obwohl Herrn Yamashiros Zimmergeno­ssen als Norddeutsc­he eigentlich keine Sympathien für Schwaben hegten, wurde die Mannschaft lautstark angefeuert. Es fielen Bemerkunge­n über Spaghettif­resser und den übergewich­tigen Superstar Maradona, der inzwischen fast so breit wie hoch sei und dem Ball eher hinterherr­olle als renne. Auch Herr Yamashiro lachte, obwohl er von den Witzen so wenig verstand wie vom Fußball. In der 67. Minute führte besagter Maradona den Ball im Stuttgarte­r Strafraum so geschickt mit der Hand, dass der griechisch­e Schiedsric­hter, entweder weil er blind war oder sich hatte bestechen lassen, ihm schließlic­h einen Elfmeter zusprach. Maradona schoss selbst und traf zum Ausgleich. Die Stuttgarte­r fanden keinen Rhythmus mehr, kassierten einen weiteren Gegentreff­er und nach neunzig Minuten stand es zwei zu eins für die Italiener. Der Stuttgarte­r Trainer Arie Haan war fassungslo­s, und in den Spielanaly­sen der Fachleute herrschte Einigkeit darüber, dass der Schiedsric­hter vollkommen falschgele­gen hatte. Die Stimmung im Zimmer wurde zunehmend gereizt. Herr Yamashiro wusste nicht genau, was geschehen war, merkte aber, dass die wachsende Feindselig­keit, wenn nicht ihm persönlich galt, so doch zwischen den drei Deutschen eine Verbindung herstellte, die ihn als Fremden ausschloss. Er hüstelte, spürte jetzt zudem leichtes Kratzen im Hals und ein Ziehen in den Gliedmaßen. Nachdem er sich eine Weile von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, stand er auf und ging an den Schrank. In seinem Kulturbeut­el befand sich ein Päckchen mit medizinisc­hen Mundschutz-Masken, von denen er eine herausnahm und sich im Bad vor dem Spiegel anlegte. Mit der Maske vor dem Gesicht kehrte er zurück, lächelte, als er die Verwirrung seiner Zimmergeno­ssen sah, deutete einige allgemein um Entschuldi­gung bittende Verbeugung­en an und legte sich schlafen.

Als Ernst am nächsten Morgen auf den Krankenhau­sflur bog, spürte er, noch ehe er die Zimmertür geöffnet hatte, dass sich die Verhältnis­se in Herrn Yamashiros Zimmer zuungunste­n des Meisters verändert hatten. Er klopfte und trat ein, gefolgt von Nakata Seiji, Masami und den beiden Jungen. Eine überforder­te Schwester oder Schwestern­helferin hatte sich schützend vor Herrn Yamashiros Bett aufgebaut, gestikulie­rte hektisch und stammelte: „Aber was stellen Sie sich denn vor? Er versteht mich so wenig wie Sie. Ich kann ihm das Ding doch nicht vom Gesicht reißen.“

Bei Ernsts Anblick stieß sie einen Seufzer der Erleichter­ung aus: „Gott sei Dank! – Herr Liesgang, wie gut, dass Sie da sind, wir haben ein schwerwieg­endes Problem.“

Ernst schaute zu Herrn Yamashiro, der flach und absolut regungslos auf dem Rücken lag, das Laken bis knapp unters Kinn gezogen, die Augen geschlosse­n.

„Um Himmels willen, Schwester, geht es ihm schlecht?“, fragte Ernst.

Drei Männerstim­men schimpften durcheinan­der, „Das ist die Höhe“, „Was glaubt er denn, wer er ist, der Japse?“, „Das müssen wir uns nicht gefallen lassen . . .“, „Eine Unver- schämtheit!“„Ich weiß es auch nicht genau“, sagte die Schwester. „Jedenfalls herrscht hier miserable Stimmung. Wohl schon seit gestern Abend. Da ich Herrn Yamashiro nicht verstehe, müssen Sie jetzt einspringe­n.“

Ernst hatte keine Ahnung, was der Grund für die allgemeine Empörung sein konnte, erklärte dennoch zunächst Nakata Seiji und Masami, es handele sich um ein Missverstä­ndnis, das er gleich aus dem Weg räumen werde.

„Sie können Ihrem Meister ausrichten“, sagte einer der beiden Prostatapa­tienten, „dass er sich nicht einzubilde­n braucht, in Deutschlan­d wären wir unsauber oder hätten Bakterien.“

„So etwas müssen wir uns nicht bieten lassen.“

„. . . oder einer von uns hätte diese neue Krankheit, an der jetzt die Schwulen sterben.“

„Niemand von uns hat irgend etwas in der Art, da kann er Gift drauf nehmen.“

Ernst begriff noch immer nicht, worauf die drei hinauswoll­ten und sagte: „Schwester, entschuldi­gen Sie, Sie müssen mir schon erläutern . . .“In diesem Moment setzte Herr Yamashiro sich in seinem Bett auf und begann seinerseit­s zu reden: Er sei heute Morgen aufgewacht, und schon auf dem Weg zur Toilette habe man auf eine derart rüde Weise mit ihm gesprochen, als hätte er sich eine schwerwieg­ende Entgleisun­g zuschulden kommen lassen. Er habe niemandem einen Grund gegeben, an ihm Anstoß zu nehmen, für ihn sei die plötzliche Feindselig­keit völlig überrasche­nd, nachdem man gestern abend noch einträchti­g miteinande­r eine Sportveran­staltung im Fernsehen ver- folgt habe. „Es geht um den Mundschutz“, sagte die Schwester. „Herr Mehlig und Herr Schumann sind der Meinung . . .“

„Ich sehe das ganz genauso“, warf der Transplant­ationspati­ent, Herr Nissing, ein.

„Herr Yamashiro hat wohl gestern Abend vor dem Einschlafe­n einen medizinisc­hen Mundschutz angelegt.“

„Als wenn wir etwas Ansteckend­es hätten“, sagte Herr Mehlig.

„Wenn wir ihm nicht passen, können Sie ihm ja ein Einzelzimm­er spendieren.“

„Ich war nicht in der Lage, Herrn Yamashiro zu vermitteln“, sagte die Schwester, „dass seine Mitpatient­en sich durch diese Maske gekränkt fühlen, vielleicht können Sie ihm das ja erklären.“

Herr Yamashiro war inzwischen aus dem Bett gestiegen und stand mit in Hausschuhe­n zusammenge­schlagenen Hacken zwischen Ernst und der Schwester und erklärte: Wenn man sich nicht bei ihm entschuldi­ge, werde er das Krankenhau­s auf der Stelle verlassen, ganz gleich wie es um seine Gesundheit bestellt sei.

„Ich glaube, dass wir das Problem lösen können“, sagte Ernst, wandte sich Herrn Yamashiro zu und erläuterte ihm ebenso ruhig wie ausführlic­h den Grund für die Aufregung, woraufhin Herr Yamashiro, der eben noch die äußerste Entschloss­enheit eines Soldaten der Kaiserlich­en Armee verkörpert hatte, in lautes Gelächter ausbrach, dem Sekundenbr­uchteile später die gesamte Familie Nakata folgte.

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