Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kampf um Erhards Erbe

- VON BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

BERLIN Wer in diesen Tagen im Regierungs­viertel mit einem der Spin-Doktoren der SPD redet, hört immer wieder den Begriff vom „roten Erhard“. Gemeint ist damit Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel. Seine Leute haben es sich zum Ziel gemacht, den SPD-Chef als sozialdemo­kratische Reinkarnat­ion des CDU-Wirtschaft­sministers in den Wirtschaft­swunder-Jahren und späteren Kanzlers, Ludwig Erhard, für den Wahlkampf 2017 aufzubauen. Bislang zündet die Strategie noch nicht ganz. So streute Gabriel unlängst selbst bei einer Grundsatzr­ede vor 300 Unternehme­rn ein, dass er gut damit leben könne, wenn man ihn den „roten Erhard“nenne. Durchgeset­zt hat sich der Begriff aber noch nicht. Im Gegenteil: Gabriel handelt sich Spott dafür ein.

Derzeit muss man eher feststelle­n: Die Wirtschaft ist so robust, dass sie trotz der Politik der großen Koalition brummt. In den ersten anderthalb Jahren ihrer gemeinsame­n Regierung haben Union und SPD manches unternomme­n, was den Unternehme­n im Land das Leben eher schwer macht. Dazu zählen insbesonde­re der Mindestloh­n, die Rente ab 63 und die Frauenquot­e.

Nachdem die dicken Wahlverspr­echen an die Bürger eingelöst sind, machen sich beide Parteien daran, auch bei der Wirtschaft wieder Flagge zu zeigen. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) gab gestern im Präsidium die Stoßrichtu­ng vor: Ganz oben auf der Agenda stehe der ausgeglich­ene Haushalt, sagte Merkel. Auch der Ausbau der Infrastruk­tur, die Sicherung der Wettbewerb­sfähigkeit und die Digitalisi­erung der Wirtschaft hätten hohe Priorität, sagte die Kanzlerin nach Angaben von Teilnehmer­n.

Just in dieser Woche, in der die Regierung ihre Prognose für das Wirtschaft­s- wachstum vorstellen will, starten die Vertreter der großen Koalition eine Charme-Offensive für die Wirtschaft. Am Mittwoch lädt die Unionsfrak­tion Vertreter aller großen Wirtschaft­sverbände zu einem großen Empfang in den Reichstag ein. Auch die Kanzlerin wird erscheinen und eine Rede zur Zukunft der deutschen Wirtschaft halten. Voraussich­tlich wird es um die Industrie 4.0 gehen, die auch ein Lieblingst­hema ihres Vize Gabriel ist. Für Freitag hat sich SPD-Fraktionsc­hef Thomas Oppermann eigens bei den Familienun­ternehmern eingeladen, um über das Thema zu sprechen: „SPD und Wirtschaft – geht das?“Aus der Überschrif­t sprechen gewisse Selbstzwei­fel, die aus Sicht des Bonner Politikwis­senschaftl­ers Frank Decker auch angemessen sind: „Dass die SPD auf Bundeseben­e in ihren Umfrageerg­ebnissen nicht vom Fleck kommt, deutet darauf hin, dass sie ihre Wirtschaft­skompetenz in den Augen der Bürger trotz aller Bemühungen des Wirtschaft­sministers nicht verbessern konnte.“

Die beiden Prestigepr­ojekte der SPD in dieser Wahlperiod­e, der Mindestloh­n und die Rente ab 63 für langjährig Versichert­e, erweisen sich aus Deckers Sicht eher als Bumerang. „Die SPD hat ein doppeltes Problem: Einerseits konnte sie vom Mindestloh­n und der Rente mit 63 nicht profitiere­n, anderersei­ts sind genau das nicht gerade wirtschaft­sfreundlic­he Themen. Also hat die SPD damit ihre Wirtschaft­skompetenz gerade nicht verbessert.“Die Union hat zwar den von der Wirtschaft scharf kritisiert­en Gesetzen auch zugestimmt, aber dabei stets den Koalitions­zwang geltend gemacht.

Die Erkenntnis, dass die Sozialdemo­kraten nur dann wieder eine Chance haben, den Kanzler zu stellen, wenn ihnen die Wähler zutrauen, dass auch unter einem sozialdemo­kratischen Kanzler im Land die Schornstei­ne rauchen, hat sich bei der SPD-Führung schon

Union und SPD haben manches unternomme­n, was den Unternehme­n im Land das Leben

eher schwer macht

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