Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Herr Yamashiro
Die Temperatur stieg nach wie vor weder zu schnell noch zu langsam. Alle drei bis fünf Minuten warf er fünf bis sieben Scheite nach. Anfangs trat er nach jedem Werfen aus der Halle und begutachtete die Rauchentwicklung über dem Schornstein. Es beunruhigte ihn ebenso, wenn es zu kümmerlich wie wenn es zu stark qualmte. Zwar hatte er eine vorläufige Genehmigung der Gewerbeaufsicht, dennoch konnten Nachbarn, die nicht wussten, was er dort tat, oder insgeheim dagegen waren, dass es seine Werkstatt in Rensen gab, Polizei oder Feuerwehr rufen, oder Ortsfremde, die mit dem Wagen am Haus vorbeifuhren und dachten, es brenne, tätigten von der nächsten Telefonzelle einen Notruf, wenige Minute später rückte der Löschzug an, und er hätte größte Mühe, den Brandmeister davon zu überzeugen, den Ofen nicht zu fluten. Dabei bewegte er sich ohnehin an der unteren Grenze der nötigen Feuerungsintensität. Wenn Herr Furukawa oder Nakata Seiji ihre Öfen brannten, breiteten sich dicke schwarze Wolken vom Werkstattgelände in die Straßen aus, und im ganzen Viertel roch es nach verbranntem Kiefernharz.
Um zwei hatte er eine Temperatur von fünfhundertfünfzig Grad erreicht. Er schnitt sich einige Scheiben Brot ab, bestrich sie mit Butter und aß. Auch währenddessen warf er alle drei bis fünf Minuten nach. Er setzte Wasser auf, brachte es zum Kochen, ließ es abkühlen, übergoss Tee, trank. Längst hörte er kaum noch etwas von den Stimmen in seinem Kopf, die ihn zur Vorsicht mahnen oder ihm Mut zureden wollten, er wurde Teil des Ofens, etwas wie dessen lebendige Herz-LungenMaschine, die den geheimnisvollen Organismus immer tiefer durchatmen ließ, mit dem Unterschied, dass die Luft aus Holz und das Blut aus Feuer bestand.
Gegen vier am Nachmittag – alles verlief nach Plan und beinahe begann er, etwas wie verhaltene Sicherheit zu gewinnen – rief eine satte Männerstimme von der Straße her: „Hallo – was machen Sie denn da?“Ernst erschrak, da er im ersten Moment jemanden von einer weiteren Behörde befürchtete, die er fahrlässigerweise nicht informiert hatte. „Dürfen wir mal gucken?“
Er sah einen Mann, der, ohne eine Einladung abzuwarten, mit mühsamen Schritten auf ihn zustapfte, teils weil eine kleine asiatisch aussehende Frau versuchte, ihn zurückzuhalten, teils wegen seines beträchtlichen Körpergewichts.
„Die Wirtin von der Kneipe hat uns gesagt, dass Sie mit Japan zu tun haben, und da meine Frau Japanerin ist, dachten wir, wir schauen einfach mal rein.“„Entschuldigen Sie“, sagte die Frau unter zahlreichen Verbeugungen in fast akzentfreiem Deutsch, „wir kommen bestimmt ganz ungelegen . ..“„Ich bin ein bisschen beschäftigt heute“, sagte Ernst und staunte einen Moment über den Klang seiner eigenen Stimme nach all den Stunden, in denen erst niemand und dann nur das Feuer gesprochen hatte. „Ich habe es dir doch gesagt“, zischte sie.
„Lassen Sie sich von uns nicht stören“, sagte der Mann, während Ernst die Klappe öffnete und Holz einwarf, „Hanjo Molnar, mein Name. Wir haben ein kleines, oder sagen wir: mittelständisches Unternehmen nicht weit von hier. Medizintechnik. Muss Sie nicht interessieren . . . Aber auch eine große Liebe zu allem Japanischen. Insofern. Und wir sammeln Keramik.“
Ernst fragte sich, ob das sonder- bare Paar den karmischen Räumen der Versuchung, der Sündenstrafen oder den Kammern der Geschenke entstammte. „Er brennt den Ofen“, stellte die Frau fest. „Dann melden wir uns vielleicht in zwei Wochen wieder und schauen die fertigen Stücke an.“„Lass doch mal“, sagte Hanjo Molnar. „So einen Brand hatte ich immer schon mal miterleben wollen. Und der junge Mann wirkt doch nicht, als ob wir ihm Stress machen würden.“
„Der Ofen ist leer“, sagte Ernst. „Was die Keramiken anlangt, werden Sie sich leider noch ein wenig gedulden müssen. Ich denke, in fünf Monaten wird es die ersten Stücke geben.“„Die Wirtin sagte schon: Sie sind ziemlich neu hier.“„Knapp zehn Monate jetzt.“„Aber vorher waren Sie lange in Japan?“„Genau. In Echizen.“„Bei Meister Kondo Izaemon?“„Nein. Ich bin bei Meister Furukawa Tokuro gewesen.“„Aber das sieht wie ein sehr guter Ofen aus.“
„Den Ofen hat ein japanischer Meister gebaut, Yamashiro Tatsuo, der auch für die Holzbrand-Öfen von Ito Hidetoshi zuständig war. Den kennen Sie sicher, wenn Sie sich für Keramik interessieren.“
„Oh, natürlich, Ito Hidetoshi“, sagte die Frau, und ihre Stimme vibrierte vor Ehrfurcht, als sie den Namen aussprach. „Der Ofen wird heute eingebrannt.“
Sie schlug die Hände vor dem Mund zusammen, sah Ernst erschrocken an. Im nächsten Augenblick verwandelte sich der Schrecken in Entschlossenheit. Sie griff erneut die Hand ihres Mannes und sagte – diesmal auf eine Art, die keinen Widerspruch duldete: „Hanjo, wir stören hier. Und es ist nicht gut, wenn wir bleiben. Das verstehst du vielleicht nicht, aber es ist so. Wir kommen wieder, wenn er fertig ist. Nächste Woche, da hat er bestimmt Zeit, und wir können uns in Ruhe mit ihm unterhalten.“
Offenbar sah Hanjo ein, dass es besser war, keinen Streit anzufangen: „So machen wir das“, sagte er. „Ende nächster Woche, wenn es Ihnen recht ist.“„Sehr gerne“, sagte Ernst. „Vielleicht haben Sie dann auch mal Lust, sich unsere Sammlung anzusehen. Es gibt ja nicht viele hier in der Gegend, die sich dafür interessieren.“„Das wäre mir eine große Freude.“
Während des Gesprächs war es dunkel geworden. Ernst hatte die Lampe über seinem Pult eingeschaltet. Nach dem Auftritt des sonderbaren Paares erschienen ihm die Stimmen des Feuers, sein Auflodern und Nachlassen noch lauter und unausweichlicher als zuvor.
Wie Nakata Seiji angekündigt hatte, stieg die Temperatur inzwischen deutlich langsamer, sie lag jetzt bei sechshundertvierzig Grad. Er betrachtete die Kurve auf dem Papier und ging davon aus, dass alles so verlief, wie es verlaufen sollte, warf Holz nach, kochte Tee, warf wieder nach, trank etwas, setzte sich auf den Stuhl, schaute den Flammen zu, die aus den Hifuki wehten, schwächer wurden, horchte auf das Knistern, versuchte, sich selbst dem Takt des Ofens anzugleichen, Teil davon zu werden, ihn zum Auf und Ab seines Atmens, dem Vor und Zurück seiner Schritte zu machen.
Das Licht des Feuers, wenn er die Klappe öffnete, war satt orange. Mit der Zeit – längst waren Minuten, Stunden, ihr Kommen und Gehen nicht mehr greifbar, zerfiel der gleichbleibende Rhythmus des Öffnens, Nachwerfens, Zurücktretens, Wartens in eine Folge von Geräuschen, Bewegungsabläufen, Gedankenmustern. (Fortsetzung folgt)