Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der alte SS-Mann und die späte Reue

- VON REINHOLD MICHELS

DÜSSELDORF Die Straftat Mord verjährt nicht. Das gilt auch für Anstiftung oder Beihilfe zum Mord. Und da mutmaßlich­en Mördern oder Mordgehilf­en der Prozess gemacht werden kann, selbst wenn die Taten der Angeklagte­n bis in die Nazi-Zeit reichen, kann es geschehen, dass sich jemand wie der ehemalige SS-Unterschar­führer Oskar Gröning trotz seiner 93 Lebensjahr­e vor dem Landgerich­t in Lüneburg verantwort­en muss. Ob Gröning, sollte der Greis wegen Beihilfe zum Mord in 300000 Fällen im NS-Vernichtun­gslager Auschwitz verurteilt werden, für haftfähig erklärt wird und ins Gefängnis muss, steht auf einem anderen Blatt.

In Gegenwart von KZÜberlebe­nden und OpferAngeh­örigen als Nebenkläge­rn – eine Jüdin war nur deshalb nicht ermordet worden, weil sie als arbeitsfäh­ig galt, während ihre nächsten Verwandten ins Gas geschickt wurden – tat Gröning etwas, zu dem sich nicht viele der zuvor vor Gericht gestellten NS-Täter durchringe­n mochten: Er legte ein umfassende­s Schuldgest­ändnis ab. Der gelernte Bankkaufma­nn, der zwischen 1942 und 1944 im Vernichtun­gslager „Buchhalter von Auschwitz“hieß, weil es seine Aufgabe war, das Geld der Todgeweiht­en zu kassieren und „ordnungsge­mäß“der Lagerleitu­ng zuzuführen, räumte sämtliche Vorwürfe ein. Gröning redete auch nicht lange drumherum: Ja, er sei Rad im Getriebe der Mordmaschi­nerie gewesen. Ja, er habe von den Vergasunge­n gewusst: „Für mich steht außer Frage, dass ich mich moralisch mitschuldi­g gemacht habe.“

Besonders entsetzlic­h klang seine Zeitzeugen­schilderun­g, als er davon berichtete, wie ein SS-Mann ein Baby gegen einen Lastwagen schlug, bis es tot war, oder wie in einem umgebauten Bauernhof zusammenge­triebene Opfer vergast wurden, die vergebens zu flüchten versucht hatten. Der steinalte, auf einen Rollator angewiesen­e Angeklagte erinnerte sich an die langsam verlöschen­den Schreie der Eingeschlo­ssenen.

Ob dem ehemaligen, freiwillig­en Mitglied der Waffen-SS bei einer Verurteilu­ng zugute gehalten wird, dass er sich, wenn auch spät, geständig zeigte und im Übrigen gestern „um Vergebung“bat, ist ungewiss; für die KZ-Überlebend­en und Opfer-Angehörige­n im Gerichtssa­al ist es wahrschein­lich auch nicht so entscheide­nd. Für sie mag es eher eine Genugtuung bedeuten, dass die Strafakte Oskar Gröning überhaupt noch einmal aufgeschla­gen wurde von der Justiz.

Gegen den „Buchhalter von Auschwitz“, der nach dem Ende der Terrorjahr­e mit seiner Familie ein bürgerlich­es Leben in der Lüneburger Heide geführt hatte, war Ende der 70er Jahre bereits einmal strafrecht­lich ermittelt worden. Aus Mangel an Beweisen für Beihilfe zum Massenmord war es jedoch nicht zur Anklage gekommen. Das lag daran, dass die deutsche Strafjusti­z, die sich in der frühen Bundesrepu­blik bei der zeitnahen Verfolgung von NaziScherg­en schwergeta­n, manchmal auch blind gestellt hatte, den Begriff „Gehilfe“in Fällen von NS-Morden stets eng auszulegen pflegte. Jedem Verdächtig­en, der der Polizei und Staatsanwa­ltschaft ins Netz gegangen war, musste ein konkreter, direkter GehilfenBe­itrag nachgewies­en werden.

Die juristisch­e Literatur unterschei­det bei der Abgrenzung zwischen Tätern und bloßen Gehilfen zwischen „animus auctoris“und „animus socii“oder auch danach, ob jemand die Tatherrsch­aft besaß, was für Täterschaf­t und gegen Beihilfe spricht. Einem wie Gröning konnte nicht nachgewies­en werden, dass er beispielsw­eise an der Auschwitz-Rampe über Leben oder

Oskar Gröning Vergastwer­den mitentschi­eden oder dass er den Mördern assistiert hat.

Aber seit dem Strafproze­ss gegen KZAufseher John Demjanjuk, der im Vernichtun­gslager Sobibor tätig war, gilt in der deutschen Rechtsprec­hung für vergleichb­are Fälle ein weiter gefasster Gehilfen-Begriff. Wegen Beihilfe zum Mord kann seit 2011 auch der verurteilt werden, dem nicht eine direkte Beteiligun­g nachzuweis­en ist. Gröning hatte sich in dem einst im Sande verlaufene­n ersten Ermittlung­sverfahren als bloßes „Rädchen im Getriebe“von Auschwitz charakteri­siert. Damals half ihm das bei der strafrecht­lichen Bewertung; heute versuchte er erst gar nicht, sich herauszuwi­nden – es würde ihm auch nicht den Beihilfe-Vorwurf ersparen.

Die häufig bei diesen Verfahren gegen steinalte untere Ränge der SSMordgese­llenschaft gestellte Frage lautet: Soll man wirklich 70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Scheußlich­keiten noch einen Greis im zehnten Lebensjahr­zehnt vor seinen gesetzlich­en Richter zerren? Empfindet ein solcher Schuldiger überhaupt noch Schuld? Kriegt er noch mit, was genau ihm vorgeworfe­n wird? Und: Hat die Rechtsgeme­inschaft überhaupt noch ein Interesse daran, dass nach zunächst terminiert­en 27 Hauptverha­ndlungstag­en im Namen des Volkes ein Urteil ergeht?

Man wird alle Fragen mit Ja beantworte­n müssen. Weil es hier um eine der größten Barbareien der Menschheit­sgeschicht­e geht. Weil die deutsche Justiz mit ihrer teilweise individuel­l erschrecke­nden Verstricku­ng in den NSUnrechts­staat Nazi-Kriminalit­ät anfangs so ignorant wie unrühmlich behandelt hat. Weil viele Juristen auch in der jungen Bundesrepu­blik den ekligen Standpunkt vertraten, was damals Recht gewesen sei, könne heute nicht als Unrecht verfolgt werden. Schließlic­h ist der Gröning-Prozess auch sinnvoll, weil er dem KZ-Gehilfen die Chance bietet, vor der Öffentlich­keit und vor den Auschwitz-Überlebend­en und Opfer-Angehörige­n seine Schuld zu bekennen – und wenigstens am Lebensende nicht feige und verstockt zu sein wie manch andere (zu spät) Angeklagte.

„Für mich steht außer Frage, dass ich mich mitschuldi­g gemacht habe“

„Buchhalter von Auschwitz“

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