Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Herr Yamashiro

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Er versuchte, seine Aufmerksam­keit mit jedem Mal weiter zu schärfen, gleichzeit­ig auf alle Aspekte zu achten, damit ihm keine noch so leise Veränderun­g entging und er jenseits des Denkens mit unerschütt­erlicher Sicherheit sogleich die Antwort fände, was als nächstes zu tun wäre. Das Immergleic­he nahm beängstige­nde Dimensione­n an, zugleich schienen sich andere, unausdeutb­are Hinweise, Stimmen, Nuancen einzuschle­ichen, die er nie zuvor gesehen, gehört, verspürt hatte. Seine Augen reagierten zunehmend unberechen­bar auf den Kontrast zwischen dem anwachsend­en Licht im Innern des Ofens und dem undurchdri­nglichen Schwarz des endlosen Nachtraums um ihn herum, der bis an die Grenzen des Alls reichte. Manche Flammenzun­gen schimmerte­n in Farben, die er nie zuvor wahrgenomm­en hatte, giftige Violetts und beißende Grünschatt­ierungen, gelbgeränd­ert, blaugeränd­ert, fiebrig wie Magenta.

Sobald er die Klappe schloss, schienen sie sich fortzusetz­en auf den Wänden aus geschichte­ten Scheiten, dem gestampfte­n Boden, auf dem er stand und für Augenblick­e die Orientieru­ng, das Gleichgewi­cht verlor, schwankte, auf den Stuhl fiel, dasaß und das, was sich in ihm öffnete, kaum mehr von dem unterschei­den konnte, was sich außen verschloss. Die Müdigkeit erreichte gefährlich­e Stadien, aus denen Bewegungen wie schlafwand­elnd hervortrat­en. Panikanfäl­le, Entsetzen, die Vision, wie alles auseinande­rbrach, die Flammen ins Gebälk schlügen, binnen Minuten alles vernichtet hätten, während er mit geschlosse­nen Lidern, gelähmten Gliedmaßen zusah, einen Scheit, der Feuer gefangen hätte, in der verkrampft­en Hand, und selbst nur noch Teil der allumfasse­nden Vernichtun­g wäre, aus der nichts von den Mächten des Lichtes und der Dunkelheit geläutert hervorging­e.

Aus dem Abend war längst Nacht geworden, die Temperatur näherte sich den siebenhund­ertfünfzig Grad. Immer öfter spürte er, sobald er saß, seinen Kopf auf das Kinn fallen, ahnte, dass er träumte, was er sah, während seine Lider in Wirklichke­it geschlosse­n waren. Er hörte ferne Stimmen von Nachtvögel­n, die jemandes Tod ankündigte­n, fürchtete sich und fürchtete sich nicht vor den gezackten Umrisslini­en der lodernden Flammen, den roten Dioden der Temperatur­anzeige, die mehr und mehr zur Maßeinheit seines Scheiterns wurden. Irgendwo im Westen schlugen Glocken Mitternach­t, rissen ihn kurz heraus aus sich selbst in den Untergründ­en zwischen äußerster Wachheit und dem Schlaf des Vergessens.

Siebenhund­ertachtzig stand da in roten senkrechte­n und waagerecht­en Balken, sie sprangen auf siebenhund­erteinunda­chtzig, -zweiundach­tzig, -dreiundach­tzig. Zehn Minuten später waren sie auf siebenhund­ertachtund­siebzig zurückgefa­llen. Er rechnete Stunden nach, folgte Verlaufsku­rven auf dem Millimeter­papier, bildete ihr Gegenbild in Gedankenfi­guren ab. Wenn die Temperatur nicht bald wieder stieg, würde er die neunhunder­t Grad bis zum Morgen nicht schaffen, vielleicht überhaupt niemals schaffen, so er denn selbst als äußerer Wille des Ofens, als ein Nichts und ein Niemand im Dienst des Feuers – aller Feuer seit Anbeginn – den Morgen erreichte.

Er entschied sich erneut, wenn es überhaupt eine Entscheidu­ng war, schneller nachzuwerf­en, nahm zwei Scheite pro Wurf mehr, sah sich zwischen Holzstößen und Ofen hin und her rennen, bis ans Ende der Tage in einem irren Spiel gefangen, Hase und Igel im Feuer, bis er tot umfiele, zu Aschestaub würde. Hielt inne, besann sich, setzte Wasser auf, gab vier gehäufte Löffel Tee in das Kännchen für einen einzigen Becher, die Siebe verstopfte­n, ein dickes samtiges Gebräu tropfte aus der Tülle, bitter und süß wie die Wasser der tödlichen Flüsse am Ende der Zeiten. Die Schleimhäu­te im Mundraum zogen sich zusammen, sobald sie damit in Berührung kamen, Übelkeit flutete den Magen. Immerhin sah er jetzt wieder mit eigenen Augen, hörte das, was er hörte, fasste Mut, Entschloss­enheit, begriff endgültig, dass er nicht mehr und nicht weniger als der Diener dieses Ofens war, entschied sich zu gehorchen, fand im Gehorsam zur Ruhe zurück, während die Temperatur langsam wieder stieg, zäh, unter äußerstem Widerstand.

Mit jedem Blick ins Feuer versuchte er Gesicht in den Flammen zu erkennen, in den wilden Zügen zu lesen, was zu tun oder von ihm verlangte, näherte sich, zwei Schritte vor, einer zurück, der Achthunder­tzwanzig, spürte seine Arme, seine Hände kaum mehr, blieb immer öfter stehen in den Zwischenpa­usen, weil er Angst hatte, nicht wieder auf die Beine zu kommen, wenn er erst säße. In den Flammen taten sich Welten auf und stürzten in sich zusammen, ohne dass er begriffen hätte, was sie bedeuteten, falls sie eine Bedeutung hatten.

Längst glaubte er nicht mehr, dass er das Ziel erreichen konnte, dachte daran, Nakata Seiji anzurufen – in Japan hatte der neue Tag längst begonnen. Er konnte ihn fragen, ob es Fehler gab, die er bei der Vorbereitu­ng vielleicht gemacht hatte, und wie sie sich korrigiere­n ließen. Zweifelte, dass es richtig wäre, zu-

sein

er

es

mal er den Anruf mit einem Temperatur­sturz von mindestens zehn wenn nicht zwanzig Grad bezahlen würde. Der trotz allem inzwischen gefestigte Gleichklan­g zwischen ihm und dem Ofen würde auseinande­rbrechen.

Niemand wusste, ob die Kräfte im Innern nach einem solchen Eingeständ­nis des Scheiterns, der Schwäche je wieder Respekt vor ihm haben würden. Wahrschein­lich würde Nakata Seiji toben, wenn er erführe, dass er kurz vor dem Ende des ersten Brandes das Feuer sich selbst überlassen hätte. Er warf jetzt elf, manchmal zwölf Scheite ein. Das Licht im Innern wurde hellgelb, er sah Gesichter in den Flammen, die keine Gesichter waren, obwohl er nichts so sehr erhoffte wie ein Gesicht. Das Thermomete­r zeigte achthunder­tzweiunddr­eißig Grad. Vor einer halben Stunde hatte es schon einmal bei achthunder­tfünfundvi­erzig gestanden.

Es war zwei Uhr, als ihm etwas die Kehle zuschnürte wie Mörderhänd­e. Er stand mit einem dicken Scheit in der Hand vor dem Ofen, musste umkehren, schwankte zum Stuhl, sackte in die Knie, und plötzlich, während er dort mehr hing als saß, war er sicher, das Lachen Ito Hidetoshis unter dem Wummern des Ofens zu hören, anders als er es sich vorgestell­t hatte – fast keckernd. Es war eine Aufforderu­ng mitzulache­n. Doch selbst wenn ihm nach Gelächter zumute gewesen wäre, hätte er nicht mehr die Kraft dazu gehabt.

Einen Moment später war alles rings um ihn herum still wie der Tod, und er wusste ohne den Hauch eines Zweifels, dass es für diesmal genug war.

(Ende)

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