Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Von Fischschwä­rmen kann man lernen

Panik bei Evakuierun­gen lässt sich vermeiden, wenn einige Ordner voran zu den Notausgäng­en gehen.

- VON CHRISTIAN SARTORIUS

DÜSSELDORF Wenn ein großer hungriger Hai angreift, möchte man kein einsamer kleiner Fisch sein, ganz allein auf hoher See. Mit ein paar Tausend Artgenosse­n zur Verstärkun­g sieht das Ganze aber schon anders aus: Jetzt hat selbst der kleinste Hering eine gute Chance, mit dem Leben noch einmal davonzukom­men. Das Zauberwort heißt „Schwarmstr­ategie“.

Nun ist es allerdings nicht so, dass es allein die reine Präsenz der schieren Masse macht. Die vielen Tausend Fischleibe­r brauchen Koordinati­on. Nur so haben sie eine Chance selbst gegen überlegene Gegner. Alle zusammen reagieren blitzschne­ll wie auf Kommando, als riesiger Superorgan­ismus sozusagen, und formieren sich im Synchronsc­hwimmen zu Kugeln oder Kreisen, nehmen Sanduhrfor­men an, alles nur, um den Angreifer zu verwirren und ihm kein eindeutige­s Ziel zu bieten.

Seltsamerw­eise gibt es keinen Boss, keinen Cheffisch, der bestimmt, was gemacht wird, wissen Fischforsc­her. Der Zweckverba­nd der Fische kennt nämlich nur gleichbere­chtigte Individuen, die sich auch noch ganz von allein und vollkommen selbststän­dig organisier­en. 1986 hat der amerikanis­che Informatik­er Craig Reynolds eine Computersi­mulation veröffentl­icht, die diese Selbstorga­nisation von Schwärmen auf nur wenige überaus simple Regeln zurückführ­en kann. Biologen kommen heute mit drei einfachen Schwarmreg­eln aus. Erstens: Bleibe in der Nähe deiner Schwarmnac­hbarn! Zweitens: Bewege dich in die gleiche Richtung wie sie! Drittens: Komme ihnen nicht zu nahe! Das ist schon alles.

Hält sich jedes einzelne Individuum daran, kann eigentlich nichts schiefgehe­n. So weit zumindest die Theorie. Aber wie setzen die Fische das in die Praxis um? Wie können sie im Notfall so blitzschne­ll reagieren? Die Augen der Fische sind in der Regel an der Seite des Kopfes angebracht. So können sie den Bereich direkt neben sich viel besser überschaue­n als wir Menschen. Wo wir schon längst den Kopf drehen müssen, blicken Fische noch ganz ohne Kopfbewegu­ng durch. Neben dem optischen und dem Geruchssin­n ist es aber vor allem ihr Sinn für Druckverhä­ltnisse, der die Tiere zu derartigen Spitzenlei­stungen befähigt. Mit dem sogenannte­n Seitenlini­enorgan können Fische blitzschne­ll kleinste Druckwelle­n wahrnehmen, wie sie etwa durch das Ausweichen des Nachbarfis­ches entstehen.

Viele Tausend Augen sehen natürlich wesentlich mehr als nur zwei, und so können potentiell­e Feinde schon früh erkannt werden. In Abertausen­den Fischleibe­rn, die allesamt reagieren wie ein einziger Superfisch, lässt sich so schnell kein einzelnes Ziel anvisieren. Durch das Synchronsc­hwimmen werden Feinde verwirrt und unsicher. Vor allem auf hoher See, im Freiwasser, wo es kaum bis gar keine Versteckmö­glichkeite­n gibt, verbergen sich die Fische auf diese Art quasi in sich selbst. So kann der Schwarm komplexe Aufgaben lösen, die jedes einzelne Mitglied für sich allein gar nicht bewältigen könnte.

Kein Wunder also, dass Forscher hier sogar von einer speziellen „Schwarmint­elligenz“sprechen. Genau hier fangen die wirklich interessan­ten Fragen erst an: Handelt dieser Zweckverba­nd von anonymen Mitglieder­n nun egoistisch, weil jeder nur seine eigenen Ziele, wie etwa das Schutzbedü­rfnis, befriedige­n will, oder gar altruistis­ch, weil niemand zurückgela­ssen wird, getreu dem Motto: Einer für alle, alle für einen? Ist das wirklich eine spezielle Form von Intelligen­z, oder reagieren die Tiere doch nur triebgeste­uert auf unterschie­dliche Umweltreiz­e? Nicht nur Computersp­ezialisten wie Craig Reynolds sind sich sicher, dass wir Menschen viel von diesen Schwarmtie­ren lernen können. Schon heute werden einige dieser Erkenntnis­se umgesetzt. Es hat sich beispielsw­eise gezeigt, dass sich eine Panik bei Evakuierun­gen erfolgreic­h vermeiden lässt, wenn einige wenige Ordner mit gutem Beispiel vorangehen und sicher sowie zielstrebi­g zu den verschiede­nen Notausgäng­en gehen.

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FOTO: J. W. ALKEN Schwarm von Ochsenauge­n-Makrelen.

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