Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Blair und Major werben für Europa
LONDON Der Kampf um den „Brexit“geht in die nächste Runde. In Großbritannien formieren sich jetzt die Fronten im Kampf um den Verbleib in oder um den Ausstieg aus der Europäischen Union (EU). Gestern gingen die Europafreunde in die Offensive. Die Kampagne „Britain Stronger in Europe“(Großbritannien stärker in Europa) präsentierte neben anderen führenden Persönlichkeiten des Landes drei ehemalige Premierminister – John Major, Tony Blair und Gordon Brown –, die sich für die Mitgliedschaft in der EU aussprechen.
Die Ex-Premiers hatten sich schon während ihrer Amtszeiten für Europa starkgemacht und betont, dass der wirtschaftliche Fortschritt des Landes mit der europäischen Einigung verbunden sei. Nun machen sie für den Verbleib in der EU mobil – es ist höchste Zeit: Denn das „Brexit“-Lager gewann in den vergangenen Monaten immer mehr Anhänger. Und weitere Lobbygruppen, die für den Austritt streiten, haben sich bereits formiert.
Der Vorsitzende der „Britain Stronger in Europe“-Organisation ist Stuart Rose, der ehemalige Chef der Einzelhandelskette „Marks & Spencer“. Es war keine schlechte Wahl, ihn zum Gesicht der Europakampagne zu machen. Rose, der im vergangenen Jahr zum Lord geadelt wurde, ist ein weithin respektierter Wirtschaftsführer. Beim Start der Kampagne legte sich Lord Rose mächtig ins Zeug. Es sei „völliger Nonsens“, sagte er, nahezulegen, dass sich die Wähler in dem bis spätestens Ende 2017 stattfindenden Referendum zwischen Großbritannien und Europa entscheiden müssten und damit Europafreunde als unpatriotisch hinzustellen. Stattdessen wäre es ausdrücklich im britischen Interesse, innerhalb der EU zu verbleiben. Die „Brexit“Befürworter griff er als „Aufgeber“und „Drückeberger“an, die „unseren Wohlstand riskieren,
Nach der ZDF-Sendung „Berlin direkt“vom Sonntagabend weiß man, dass es nicht an der Moderatorin liegt, wenn Vizekanzler Sigmar Gabriel im Interview pampig wird. Das passiert ihm einfach öfters. In diesem Fall bei Bettina Schausten, Leiterin des ZDFHauptstadtstudios in Berlin. Bereits 2013 fetzte sich Gabriel öffentlich mit der „heute journal“-Moderatorin Marietta Slomka über den Bildschirm. Damals ging es um die BasisAbstimmung der Sozialdemokraten über den Koalitionsvertrag. Dieses Mal stand die Flüchtlingspolitik und Gabriels Verhältnis zur Kanzlerin zur Debatte. Nun ist Schausten der Typ unsere Sicherheit bedrohen und unseren Einfluss in der Welt verkleinern würden“.
Harter Tobak und ein Vorgeschmack darauf, was sich die jeweiligen Lager in den nächsten Monaten um die Ohren schlagen werden. Die Stimmung wird angeheizt, weil sich die Kräfteverhältnisse in den Meinungsumfragen deutlich verschoben haben. Waren bis zum Sommer die EU-Befürworter eindeutig in der Überzahl, hat nun die „Brexit“Brigade mächtig aufgeholt. Die Flüchtlingskrise in Europa hat viele Briten verschreckt und den Reflex, sich abschotten zu wollen, verstärkt. Und ein Linksruck bei der Labour-Party und den Gewerkschaften, die skeptisch gegenüber einer zu wirtschaftsfreundlichen EU sind, hat dem Lager der Austrittswilligen von links aus Auftrieb gegeben. Kein Wunder, dass sich eine gewisse Nervosität im Königreich breitmacht: Der „Brexit“ist möglich.
Gleich zwei miteinander konkurrierende Organisationen wollen das zur Realität machen. Die Gruppe „Leave.EU“wird angeführt von Nigel Farage. Farage ist Chef der Austrittspartei Ukip und hatte im letzten Jahr sensationelle Erfolge bei den Europawahlen er- zielt, wo Ukip stärkste Kraft wurde. Bei den Unterhauswahlen im Mai errang man aufgrund des Mehrheitswahlrechts zwar nur einen Sitz, aber immerhin hatten sich vier Millionen Wähler für die Rechtspopulisten ausgesprochen. „Leave.EU“wird den Referendums-Wahlkampf mit nationalistischer Stoßrichtung und vor allem mit dem Argument führen: Wir können unsere Grenzen und damit die Einwanderung nur kontrollieren, wenn wir aus der EU austreten.
Eine zweite Lobbygruppe nennt sich „Vote Leave“und vereint parteiübergreifend Euroskeptiker aller Couleur wie etwa den Labour-Abgeordneten Kate Hoey, den nordirischen Unionisten Lord Trimble, Hinterbänkler der Konservativen, die schon immer gegen die EU getrommelt haben, und sogar eine grüne Politikerin. Daneben hat man eine Reihe von Unternehmern und den Thriller-Autor Frederick Forsythe rekrutieren können. Das Vote-LeaveBündnis tritt mit dem patriotischen Argument an, dass Großbritannien, wenn es erst einmal die Brüsseler Ketten abgeworfen hat, als Handelsnation in der Welt triumphieren wird: Man bietet den Wählern den neoliberalen Traum der Journalistin, der klar, nüchtern, analytisch und auf das Ziel orientiert fragt, dass der Zuschauer etwas Neues vom Interviewpartner erfährt. Schnippisch, dreist oder unhöflich erlebt man sie nie. Umso bemerkenswerter ist, dass Gabriel den Fragen nicht gewachsen war. Der SPD-Chef war von einer Parteikonferenz in Mainz nach Berlin zugeschaltet. Bei der Konferenz hatte er sich in der Flüchtlingsfrage von der Kanzlerin verbal abgegrenzt. Schausten wollte im Interview wissen, ob Gabriel denn noch an der Seite der Kanzlerin stehe. Die Frage schien dem Betrachter vollkommen logisch. Gabriel aber meinte, die Frage sei „total merkwürdig“. Schließlich verlaufe die Konfliktlinie zwischen ökonomischen Autarkie an. Verglichen damit kann das Pro-Europa-Lager kaum Träume oder positive Botschaften verkünden, wirbt man doch letztlich für den Status quo.
Versucht hat es Lord Rose dennoch, als er unterstrich, dass der wirtschaftliche Nutzen einer EU-Mitgliedschaft für jeden britischen Haushalt rund 3000 Pfund pro Jahr ausmache. Aber vor allem wird „Britain Stronger in Europe“auf ein anderes Argument setzen müssen: dass die Risiken eines Austritts zu groß sind. Die Gegenseite, so Rose, könnte nicht erklären, wie man weiterhin Zugang zum Binnenmarkt bekäme oder wie günstigere Freihandelsabkommen mit dem Rest der Welt ausgehandelt werden können. „Die Aufgeber können nicht garantieren, dass unsere Jobs sicher sind und dass die Preise nicht steigen würden“, sagte Rose. „Die Aufgeber können nicht sagen, wie sich unser verminderter Status auf das Verhältnis mit den USA oder China auswirken wird. Europa zu verlassen, wäre ein Sprung ins Ungewisse. Es ist einfach nicht das Risiko wert.“
In Großbritannien nennt man diesen Kurs „Project Fear“, Projekt Angst: Den Briten soll der Austritt verleidet werden, indem man die Unwägbarkeiten und Gefahren eines Alleingangs unterstreicht. Genau diese Strategie wurde im letzten Jahr bei einem anderen Referendum angewandt: der Volksabstimmung über Schottlands Unabhängigkeit. Es ist eine zweischneidige Strategie. Einerseits war man erfolgreich, weil man bei genug Schotten Bedenken vor den Konsequenzen einer Scheidung wecken konnte. Andererseits hatte man mit dem AngstArgument viele stolze Schotten vor den Kopf gestoßen. Denn es bedeutet nichts weiter als: Ihr seid nicht stark genug, unabhängig zu sein. Es kann gut sein, dass die Briten, wenn es um die EU geht, sich von einem solchen Argument provoziert fühlen werden. Der Kampf um Europa hat begonnen. Ausgang ungewiss. CDU und CSU. Wer wie Schausten über Jahre Politiker interviewt, lässt sich durch einen solchen Versuch, abqualifiziert zu werden, aber nicht beirren. Die ZDF-Frontfrau entgegnete, dass sie ihre Frage nicht merkwürdig finde und Gabriel ja anders als die Kanzlerin eine Obergrenze bei den Flüchtlingen wolle. Gabriel provozierte die Nachfrage noch mehr: „Nichts von dem, was Sie sagen, ist richtig, Frau Schausten“, donnerte er ihr entgegen. So erfüllte das Interview am Ende seinen Zweck, indem es dem Zuschauer zeigte, dass der Vizekanzler sich zwar verbal von der Union absetzt, aber auch keine klare Strategie zur Bewältigung der Flüchtlingskrise hat. Eva Quadbeck