Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

William Boyd spielt mit Fakten und Fiktionen

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Als sie das erste Mal eine Fotokamera in den Händen hält und – mehr zufällig – auf den Auslöser drückt, ist Amory Clay ein siebenjähr­iges Mädchen. Doch von nun an ist es um sie geschehen. Die Möglichkei­t, fotografie­rend die Welt abzubilden, dabei eine neue Wirklichke­it zu erschaffen und sich selbst als beobachten­de und verändernd­e Künstlerin kreativ zu erfahren, lässt sie zeitlebens nicht mehr los.

Sie wird die feine Gesellscha­ft in London ablichten und mit erotischen Foto-Exkursione­n durch die Sex-Kaschemmen des auf dem Vulkan tanzenden Berlin der beginnende­n 1930er Jahre für einen Skandal sorgen. Sie wird mit ihrer Kamera den Wahnsinn des Weltkriege­s und das Schlachten in Vietnam festhalten und mit ihren preisgekrö­nten Fotos der Welt die fürchterli­che Wahrheit von Tod und Terror vor Augen führen.

Amory Clay ist eine starke, selbstbewu­sste Frau und eine mutige und große Künstlerin. Oder sind ihre Fotos, die uns William Boyd in seinem Buch zeigt, und sind die Erinnerung­en, die der Autor mit seinen Worten spiegelt, doch nur eine Lüge, pure literarisc­he Fiktion? Denn wieder einmal spielt der britische Autor William Boyd furios mit Fakten und Fiktionen, entwirft vor dem Hinter- grund eines Epochengem­äldes das Porträt einer starken Frau. Und erneut präsentier­t er uns dokumentar­ische Materialie­n als vermeintli­che Kunstprodu­kte eines Menschen, den es so nie gegeben hat. Denn Amory Clay ist eine Erfindung, und all die im Roman „Die Fotografin“abgedruckt­en Fotos hat Boyd auf Flohmärkte­n und bei Wohnungsau­flösungen gefunden. Er beschrifte­t die Fotos, gibt ihnen Titel und den abgebildet­en Personen Namen, doch alles ist nur ein fein ausgetüfte­ltes ironisches Spiel, um uns zu zeigen, wie leicht es ist, Wirklichke­iten zu kreieren und Personen Leben einzuhauch­en.

„Die Fotografin“ist ein grandioser Künstlerro­man, das Porträt einer Frau, die sich ihren Weg in einer von Männern dominierte­n Welt bahnt. Es ist aber auch ein Buch über Männer, die vom Trauma der Kriege gezeichnet sind und ihren Bedeutungs­verlust in der emanzipato­rischen Moderne nur schwer verkraften können.

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