Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Bürger-King

Der bürgerlich­e, bürgernahe und deshalb so beliebte Winfried Kretschman­n führt die erste grün-schwarze Landesregi­erung.

- VON BIRGIT MARSCHALL, GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK

BERLIN 82-mal Ja, 57-mal Nein, das reichte dicke, um ein Novum in Deutschlan­d ans Laufen zu bringen: Winfried Kretschman­n wurde in Stuttgart zum ersten Ministerpr­äsidenten einer grün-schwarzen Koalition. Am Ende fehlten aus seinem neuen Regierungs­lager zwar sechs Stimmen, doch angesichts der großen Mehrheit nahm der GrünenReal­o den Schönheits­fehler gelassen: „Jeder kann abstimmen, wie er es für richtig hält.“

Gemessen an dem Drittel der Stimmen, das bei einer Probeabsti­mmung in der CDU-Fraktion gefehlt hatte, ging die Wahl im ersten Anlauf dann doch relativ glatt über die Bühne. Es bleibt somit der Eindruck, dass es Kretschman­n mit einer verunsiche­rten und zerstritte­nen CDU zu tun hat. Gleichwohl freut er sich auf die Arbeit mit dem neuen Partner. So glaubt er, mit der CDU bei der Digitalisi­erung des Landes schneller voranzukom­men als bislang mit der SPD an seiner Seite.

„Es geht mit der CDU besser, denn die ist eine Partei mit sehr vielen tiefen und alten Verbindung­en zur Wirtschaft, die bei den Sozialdemo­kraten so nicht gegeben sind“, erläuterte Kretschman­n im Gespräch mit der FAZ. Gleichzeit­ig kritisiert­e er die CDU-Chefin und Kanzlerin Angela Merkel, indem er bei ihr das Denken in „längeren Linien“vermisste. „Es fehlt der Bundesregi­erung manchmal schon das Proaktive.“Möglicherw­eise steckt dahinter auch die Botschaft, dass der Union im Bund vor allem eines fehle: die Grünen als Partner.

Wie aufs Stichwort gratuliert aus Hessen der in Wiesbaden mit einem schwarz-grünen Bündnis regierende CDU-Regierungs­chef Volker Bouffier: „Dass wir in einem Nachbarlan­d, mit dem wir eng verbunden sind, nun eine Koalition mit den gleichen Partnern haben, begrüße ich“, sagte Bouffier unserer Redaktion. „Auf diese Weise kommt Hessen aus seiner exotischen Rolle heraus.“Nach Hessen gilt nun BadenWürtt­emberg als weitere Etappe zu Schwarz-Grün 2017 im Bund.

Hinter den Kulissen kommt dies in einem nicht zu unterschät­zenden Vorgang zum Ausdruck. Seit gestern ist Kretschman­n als Anführer und Organisato­r aller von den Grünen mitregiert­en Bundesländ­er vom „roten“ins „schwarze“Lager gewechselt. Seit den frühen 70er Jahren sprechen die Machtpolit­iker im Bund von der „A-Seite“der SPD-regierten Länder und der „B-Seite“der unionsregi­erten Länder. Hinzugesel­lt haben sich die „G-Länder“, die ihre Politik jedoch bislang an den SPD-Ländern ausrichtet­en. Nun orientiert sich Kretschman­n an der B-Seite. Die Absprachen schwarz-grüner Politik auf Bundeseben­e ist somit in den praktische­n Politikabl­äufen schon weiter gediehen, als es den Anschein hat.

Trotzdem stehen die Tore für Schwarz-Grün noch lange nicht offen. Ganz im Gegenteil. Mit jeder Serie von Landtagswa­hlen haben sich die Einflusszo­nen im Bundesrat nämlich verschoben. Nun braucht Merkel mindestens drei Länder, um zustimmung­spflichtig­e Gesetze durchzukri­egen, also außer den von großen Koalitione­n und von GrünSchwar­z und Schwarz-Grün regierten auch noch mindestens eines aus dem rot-grünen Block. Im Vorfeld der NRW-Wahlen steht also hartes Powerplay bevor. Dabei wird sich zeigen, wie recht Baden-Württember­gs CDU-Chef Thomas Strobl hat, der die Grünen als „Melone“erlebte: „außen grün, innen rot.“

Die Schwarz-Grün-Befürworte­r spüren gleichwohl Rückenwind durch Baden-Württember­g und Hessen. CDU-Präsidiums­mitglied Jens Spahn sagt ohne Einschränk­ung: „Beide Beispiele werden zeigen: Es geht.“CDU-Generalsek­retär Peter Tauber verweist zwar nach wie vor darauf, dass die Union die größten Schnittmen­gen mit der FDP habe. Doch arbeitet auch er nach eigenen Worten daran, die Machtoptio­nen zu erweitern: Neben eine neue große Koalition soll die Möglichkei­t für Schwarz-Grün treten.

Wären schon nächsten Sonntag Bundestags­wahlen, würde es dafür noch nicht reichen. Erst müssten die Union ihre 30 bis 34 Prozent und die Grünen ihre zehn bis 13 Prozent ausbauen. Tauber ist zuversicht­lich, bis 2017 noch mal zuzulegen. Tatsächlic­h können sich die meisten Deutschen vorstellen, dass es 2017 zu Schwarz-Grün kommt. 48 Prozent setzen darauf, nur 38 Prozent auf andere Konstellat­ionen. Besonders interessan­t: Die jeweiligen Lager haben ihre Scheu abgelegt. 60 Prozent der Grünen-Anhänger wollen jetzt Schwarz-Grün, und sogar 67 Prozent der Unionsanhä­nger.

Bei den Themen Flüchtling­spolitik, Haushaltsd­isziplin und Rentenrefo­rm sehen Unionspoli­tiker wenig Probleme, mit den Grünen zusammenzu­kommen. Nun liege es ganz an den Grünen, ob sie den „Fehler“von 2013 noch einmal wiederholt­en und mit einem Anti-CDU-Wahlkampf ein Bündnis verhindert­en. Die Erfahrunge­n in Stuttgart und Wiesbaden werden dabei die größte Rolle spielen.

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FOTO: DPA Strahlende­r alter und neuer Ministerpr­äsident BadenWürtt­embergs : Winfried Kretschman­n (67)

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