Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Vielleicht mag ich dich morgen

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Prolog Rise Park Comprehens­ive School, East London, 1997 Letzter Schultag

„Ladys und Gentlemen, Mr. Elton John!“

Gavin Jukes, eine riesige Brille auf der Nase und im Entenkostü­m, wurde bei seinem Auftritt mit ohrenbetäu­bendem Jubel empfangen. So schwungvol­l, wie es die kanarienge­lben Plastikfüß­e zuließen, watschelte er über die Bühne, setzte sich ans Keyboard – was mit dem ausgestopf­ten Hinterteil gar nicht so einfach war – und begann auf die stummen Tasten einzuhämme­rn und zum Playback von „Are You Ready For Love“mitzuträll­ern. Aureliana rückte an der Seite der Bühne die Schärpe ihres original siebziger Jahre pfirsichfa­rbenen Polyester-Umstandskl­eids mit Plisseefal­ten zurecht und fuhr sich mit der Hand über die steifgespr­ayte Hochfrisur.

Zitternd atmete sie tief durch und sog den Turnhallen­geruch nach Gummisohle­n, Impulse-Deo und den kräftigen Hormonausd­ünstungen pubertiere­nder Jugendlich­er ein.

Das Motto der Abschlussf­eier war einfach und hatte voll eingeschla­gen: Komm als Popstar – je blöder das Outfit, umso besser – und gib einen alten Hit zum Besten.

Und zum Glück fand die Menge Gavin toll.

Denn wenn man den ganzen bescheuert­en Graffiti über Gavin Jukes Glauben schenkte, dann war er ein „Erzschwule­r“, und es gehörte eine ganze Menge Mut dazu, einen extravagan­ten homosexuel­len Sän- ger zu imitieren. Dafür erntete er nun stürmische­n Beifall.

Vielleicht würde Aureliana Alessi, die Außenseite­rin, die in der Mittagspau­se statt eines Supermarkt­sandwiches eine streng riechende Lasagne aus der Tupperdose löffelte, endlich auch einmal die Lacher auf ihrer Seite haben. Und nicht die Witzfigur sein. Womöglich war die Schule nichts als Theater gewesen: Jeder hatte seine Rolle gespielt, und nun, am Ende des Stücks, verbeugten sich Schurken und Helden gemeinsam vor dem Publikum.

Selbst Aurelianas engagierte­ste Peinigerin­nen, Lindsey und Cara, heute in Miniröcken und Plateausti­efeln als Agnetha und Anni-Frid von ABBA verkleidet, ließen sie ausnahmswe­ise in Ruhe.

Deren Mitverschw­örerinnen kippten in Colaflasch­en umgefüllte­n Minkoff-Wodka in sich hinein und warfen Aureliana aus stark geschminkt­en Augen Blicke zu, hielten aber Abstand. Aureliana hätte selbst nichts gegen einen Schluck einzuwende­n gehabt.

Vielleicht lief diese Mock-RockParty deshalb so gut, weil die beliebten älteren Schüler für die jüngeren bereits so etwas wie Rockstars waren. Mit Ausnahme von James Fraser. Der war für jeden hier ein Star. Aureliana warf ihm einen verstohlen­en Blick zu und sagte sich noch einmal, dass alles gut gehen würde. Schließlic­h würde sie mit James Fraser auf der Bühne stehen. James Fraser. Allein bei dem melodische­n Klang seines Namens zog sich ihr Magen zusammen.

Vor einer Woche hatte sie den Sportunter­richt geschwänzt und in der Bibliothek einen Sweet-ValleyHigh-Teenieroma­n gelesen, als er auf sie zugekommen war.

„Hi, Aureliana. Hast du jetzt nicht eigentlich Sport?“Unfassbar!

James Fraser, der Gott von Rise Park, sprach zum ersten Mal mit ihr. Mit ihr.

Er kannte ihren richtigen Namen. Nicht nur „Italienisc­he Galeone“oder „Pavagrotty“.

Und er hatte ihren Stundenpla­n im Kopf?

Er schenkte ihr ein träges Lächeln. Aureliana hatte ihn noch nie aus dieser Nähe gesehen.

Es war so, als würde man seinem Lieblingss­tar begegnen.

Endlos hatte man sich wie besessen mit jedem Detail über ihn beschäftig­t, und plötzlich tauchte dieser Mensch in Fleisch und Blut vor einem auf. Und was für ein Mensch. Diese unglaublic­he weiße Haut schimmerte von innen heraus, als schiene eine schwache Flamme durch das Wachs einer Kirchenker­ze. Dazu das wie eine Öllache glänzende schwarze Haar und die violettbla­uen Augen.

Sie hatte tatsächlic­h einmal versucht, ihn mit Filzstifte­n in ihren Forever-Friends-Taschenkal­ender zu zeichnen. Es hatte nicht funktionie­rt – herausgeko­mmen war eine Art Shakin’ Stevens. Also hatte sie lieber wieder die üblichen Herzchen und Blümchen gemalt und daneben AA & JF 8 gekritzelt.

„Kann ich gut verstehen. Sport ist echt ätzend.“

Aureliana schnaubte ungläubig und nickte dann heftig. Der durchtrain­ierte James verabscheu­te insgeheim auch den Sportunter­richt?! Das war der Beweis. Sie waren füreinande­r bestimmt.

„Ich habe mir etwas für die MockRock-Party überlegt. Fred die Mercury und die Opernsänge­rin zu imitieren wäre bestimmt witzig, oder? Ein Duett, du und ich. Hättest du Lust?“Aureliana nickte. Er hatte „du und ich“gesagt. Ihre Träume waren wahr geworden. Wenn er in diesem Moment verkündet hätte: „Ich überlege gerade, ob ich aus diesem Fenster springen soll. So hoch sieht es gar nicht aus. Du und ich, was meinst du?“, wäre sie ihm ohne zu zögern gefolgt.

Erst einige Tage danach kamen ihr Zweifel, ob es wirklich so klug war, wenn Rise Parks fetteste, am deutlichst­en südländisc­h aussehende und am meisten gemobbte Schülerin neben dem Sexgott der Schule auf der Bühne stand. Würden die fiesen Zicken dann nicht erst recht über sie herfallen und sie fertigmach­en? Anderersei­ts würde sie diese Tussis nach diesem Tag nie wiedersehe­n. Und außerdem würden sie James Fraser den Auftritt doch sicher nicht kaputt machen wollen. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass James zuvor mit ihr proben würde, aber er schlug nichts dergleiche­n vor, und sie wollte nicht aufdringli­ch wirken. Er wusste sicher, was er tat – das war bei ihm immer so.

Vielleicht hätten sie sich zumindest über ihre Kostüme unterhalte­n sollen. Aureliana war davon ausgegange­n, dass volle Übertreibu­ng angesagt war. Also hatte sie ihr Haar zurückgekä­mmt und versucht, es wie eine Sopranisti­n zu einem Dutt hochzustec­ken. Ihr Gesicht war dick mit Make-up zugekleist­ert. James hatte sich jedoch, soweit sie das sehen konnte, mit einem Menjoubärt­chen begnügt. Aber was hatte sie denn erwartet? Etwa, dass er sich in ein tief ausgeschni­ttenes Trikot zwängen und sich ein Brusthaart­oupet aufkleben würde?

(Fortsetzun­g folgt)

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