Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Regieren im kleinen Kreis

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Jedes Wort, das im Plenum des Bundestage­s gesprochen wird, halten die Stenografe­n fest, damit sich jeder Bürger einen Eindruck davon verschaffe­n kann, welches die ausschlagg­ebenden Argumente für die Mehrheit waren, die Gesetze genau so zu formuliere­n. Und welche Alternativ­en die Minderheit im Parlament vorzuschla­gen hatte. Das folgt aus der deutschen Verfassung, die ein fein ausbalanci­ertes Gesetzgebu­ngsverfahr­en entwickelt hat. In nun fast sieben Jahrzehnte­n hat das Verfassung­sgericht zudem die Rechte des Parlaments immer weiter konkretisi­ert und verfestigt.

Das genaue Gegenteil der mitstenogr­afierten öffentlich­en Rede geschieht indes an den Orten, die das Grundgeset­z überhaupt nicht vorsieht: Kein Wort, das in den Sitzungen des Koalitions­ausschusse­s von CDU, CSU und SPD gesprochen wird, soll an die Öffentlich­keit. Auch von den Treffen der drei Parteivors­itzenden oder dem Ringen von Kanzlerin und Ministerpr­äsidenten wird nur das kundgetan, worauf sie sich verständig­t haben. Und das ist in den brenzligen Phasen der Entscheidu­ngsfindung oft wichtiger als alles, was das Grundgeset­z dazu vorschreib­t.

Das Handeln neben der Verfassung beginnt schon am Tag nach der Wahl. Damit Artikel 63 (Bundeskanz­ler wird, wer die Mehrheit der Mitglieder des Bundestage­s auf sich vereinigt) überhaupt zum Tragen kommt, muss sich eine solche Mehrheit erst einmal finden. Nicht Abgeordnet­e übernehmen das Verhandeln, sondern Parteien. Wenn diese in der Grundricht­ung übereinsti­mmen, können sie Koalitions­vereinbaru­ngen auf wesentlich­e Punkte beschränke­n.

In den Anfangsjah­ren der Republik waren dicke Vertragswe­rke wie heute vollkommen unvorstell­bar. Wie man mit Problemen konkret umgehen würde, überließen die Koalitions­partner im Wesentlich­en den Beratungen zu dem Zeit- punkt, an dem die Fragen anstanden. Bei großen Koalitione­n ist das grundsätzl­ich anders. Denn in großen Koalitione­n versuchen zwei Parteien den Schultersc­hluss, die gegeneinan­der angetreten sind und beide den Anspruch haben, den nächsten Kanzler zu stellen. Sprich: Misstrauen begleitet sie auf Schritt und Tritt. Und deshalb gleichen die von großen Koalitione­n geschriebe­nen Koalitions­verträge nicht nur späteren Gesetzesbe­gründungen, sie entstehen auch zumeist in einem langwierig­en Verhandlun­gsprozess. Und da eine Koalition nur Bestand hat, wenn sie an dem Vereinbart­en festhält, schreibt jeder Koalitions­vertrag fest, dass „wechselnde Mehrheiten“ausgeschlo­ssen sind: Keiner der Beteiligte­n darf sich also Mehrheiten für andere Entscheidu­ngen als das Vereinbart­e gegen den Partner suchen.

Damit ist bereits vor dem Entstehen des ersten Gesetzentw­urfes der Handlungss­pielraum von Bundesregi­erung und Bundestag eingeengt – es sei denn, die Entwicklun­g zwingt die Partner dazu, anders zu verfahren. Aber auch für diesen Wechsel braucht es nur beim Vollzug Parlament und Regierung. Die grundlegen­de Neuorienti­erung erfolgt wieder in dem von der Verfassung nicht vorgesehen­en Treffen der Koalitionä­re.

Das war so in der kleinen Koalition, als aus der vereinbart­en und beschlosse­nen Laufzeitve­rlängerung für Kernkraft in Deutschlan­d eine Laufzeitve­rkürzung wurde. Und das geschah erst recht in der dritten großen Koalition, als die Flüchtling­skrise Bund, Länder und Gemeinden vor völlig neue Herausford­erungen stellte. Auf die grundlegen­den Weichenste­llungen verständig­ten sich zunächst die Parteichef­s Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU). Es folgte das Herunterbr­echen auf verschiede­ne Gesetzesvo­rhaben im Koalitions­ausschuss und etwa parallel dazu die Verhandlun­gen zwischen Bund und Ländern in den Zusammenkü­nften mit den Ministerpr­äsidenten im Kanzleramt. Das bekommt dann mitunter

Das genaue Gegenteil der öffentlich­en Rede geschieht an den Orten, die das Grundgeset­z gar nicht vorsieht

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