Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Gedenken als Staatsräso­n

Heute erinnert die Bundesrepu­blik an die Opfer des Nationalso­zialismus – der Holocaust ist der neuralgisc­he Punkt unser Staatsiden­tität. Diese Identität aber steht infrage wie noch nie.

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sind es 542, unter der Beschreibu­ng „Was für ein unglaublic­her Ort“). Erst wenn man mit der Maus darüberfuh­r, wurde die Montage sichtbar. Dann erschien etwa ein lächelndes Paar vor ausgemerge­lten KZ-Häftlingen. Oder eine junge Frau, sich rekelnd vor einem Berg Schuhe, die offenbar Menschen vor deren Gang in die Gaskammer abgenommen worden waren.

Gestern, einen Tag vor dem Gedenktag der Bundesrepu­blik für die Opfer des Nationalso­zialismus, verschwand­en die Bilder. Stattdesse­n war eine Stellungna­hme Shapiras zu lesen: Alle Abgebildet­en hätten das Angebot genutzt, ihre Fotos entfernen zu lassen. Zudem sind Reaktionen aus aller Welt zu lesen, teils lobend, teils beleidigen­d. Shapiras letzter Absatz gehört einem der Abgebildet­en, der sich für seine Respektlos­igkeit entschuldi­gt.

Wozu die Aufregung, mag man fragen. All die Selfie-Akrobaten haben doch nur – die meisten sicher, ohne ihn zu kennen – Gerhard Schröder beim Wort genommen. Das Mahnmal müsse ein Ort sein, „an den man gerne geht“, hatte Schröder 2005 gesagt. Was Besucherza­hlen und Stimmung angeht, hat sich Schröders Wunsch erfüllt. Politisch ist er absurd. Gern kann man am Holocaust-Mahnmal nur sein, wenn man sich gern schlecht fühlt – oder wenn man den Zweck des Orts ausblendet und das Stelenfeld zum Abenteuers­pielplatz erklärt. Das ist bestenfall­s gedankenlo­s, und Yolocaust.de hat uns das schmerzlic­h vor Augen geführt.

Das Holocaust-Mahnmal, offiziell „Denkmal für die ermorde- ten Juden Europas“, ist notwendige­rweise ein neuralgisc­her Punkt, ein Schmerzher­d. Denn der Holocaust ist Kern des Selbstvers­tändnisses der Bundesrepu­blik; das Gedenken daran ist ihre Staatsräso­n. Daher ist es nur folgericht­ig, dass das Mahnmal so zentral in der Hauptstadt liegt, direkt am Brandenbur­ger Tor. „Wir wollen Lehren ziehen, die auch künftigen Generation­en Orientieru­ng sind“– so begründete Bundespräs­ident Roman Herzog 1996, dass er den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Vernichtun­gslagers Auschwitz, als Gedenktag proklamier­t hatte. Ohne Auschwitz gebe es keine deutsche Identität, fügte sein Nachfolger Joachim Gauck 2015 hinzu.

Man kann nicht sagen, dass das Volk davon überzeugt wäre. Seit Jahrzehnte­n stellen Demoskopen bei einer Mehrheit den Wunsch fest, einen Schlussstr­ich zu ziehen; die Zustimmung zu der entspreche­nden Frage schwankt etwa zwischen der Hälfte und zwei Dritteln.

Das „Nie wieder!“führt die Bundesrepu­blik wie ein unsichtbar­es Motto. Und dennoch steht im Jahr 2017 dieses Motto so sehr infrage wie noch nie seit ihrer Gründung. Das liegt nicht daran, dass der Anteil der Schlussstr­ichBefürwo­rter plötzlich gewachsen wäre. Zwei andere Phänomene haben alles verändert. Ein seit Langem absehbares: Die Generation der Zeitzeugen verschwind­et. Und ein neuartiges, unerhörtes: Es gibt erstmals eine politisch bedeutsame Partei, nämlich die AfD, die den Konsens offen anzweifelt, dass das Selbstvers­tändnis dieses Staates aus dem Gedenken an deutsche Schuld erwächst.

Höcke forderte eine „erinnerung­spolitisch­e Wende um 180 Grad“. Und dann war da eben noch das „Denkmal der Schande“. Das ist keineswegs offenes NS-Gedankengu­t, wenn es auch von Höcke nicht weit ist zum neonazisti­schen Schlagwort des „Schuldkult­s“. Aber es ist eindeutig zweideutig – gedenken wir der Schande? Oder ist das Denkmal eine Schande? Die AfD hat den fortgesetz­ten Grenzgang, die historisch­e Doppeldeut­igkeit zum Prinzip erhoben. Sie hat das sogar in ein Strategiep­apier geschriebe­n, über das diese Woche die „Frankfurte­r Allgemeine“berichtete. Höckes Rede war die gewohnte Kriegserkl­ärung an das angebliche Kartell der „Altparteie­n“, nun eben auch auf dem Feld der Geschichts­politik.

Ja, „Spiegel“-Herausgebe­r Rudolf Augstein („dieses Schandmal“) und Schriftste­ller Martin Walser („Dauerpräse­ntation unserer Schande“) haben ganz ähnliche Worte verwendet wie nun Höcke. Was folgte, war zum Beispiel bei Walser allerdings eher ein öffentlich­es intellektu­elles Fachgesprä­ch als eine politische Debatte, die die Massen anrührt. Seit die AfD am Konsens rührt, ist das anders. Die Partei will mit dem historisch­en Tabubruch populär werden, und sie droht den historisch­en Tabubruch damit populär zu machen.

Die Bundesrepu­blik wird ihr historisch­es Fundament in den nächsten Jahren und Jahrzehnte­n überarbeit­en müssen. Gedenkstät­ten wie das HolocaustM­ahnmal, wie Buchenwald und Auschwitz werden dabei wichtiger sein als je zuvor. Schuldig ist von den heute lebenden Deutschen fast niemand mehr. Dennoch und deshalb ist es eben nicht vorbei mit dem Erinnern an deutsche Schuld, jetzt, da der Nationalso­zialismus hinter dem Horizont der Zeitgenoss­enschaft verschwind­et.

Es fängt ganz neu an.

Seit die AfD am historisch­en Konsens rührt, ist alles anders: Der Tabubruch droht populär zu werden

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